2013/06/21

Kinderheim SülzBurg und Ghetto zugleich


Eine Aufnahme aus dem Kindergarten des Sülzer Waisenhauses um 1923. Foto: Archiv
Fast 100 Jahre lang war das Kinderheim in Sülz Europas größten Waisenhaus. Eine Ausstellung in der Kinder- und Jugendpädagogischen Einrichtung Aachener Straße erinnert an das Leben hinter den hohen Mauern.  Von
 
 
Sülz. In der Vitrine liegt das Schriftstück, das den Beginn des Waisenhauses am Sülzgürtel dokumentiert. „Das ist der Originalvertrag aus dem Jahre 1912, den die Stadt mit dem Orden der Schwestern vom armen Kinde Jesu abgeschlossen haben“, sagt Rolf Koch. „Darin ist festgelegt, dass die Schwestern sich um die Betreuung der Waisenkinder kümmern“, erklärt der Pädagoge. Er arbeitete viele Jahre im Kinderheim und ist seit der Schließung Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendpädagogischen Einrichtung (Kids). Das Papier ist Teil der Ausstellung, die zurzeit im Neubau der Einrichtung an der Aachener Straße 90-98 gezeigt wird.
Bei einer Feierstunde mit ehemaligen und aktuellen Bewohnern präsentierte die Leiterin des Hauses Lie Selter auch die Chronik zur Geschichte des Sülzer Kinderheims. Anlass von Chronik und Ausstellung ist die Aufgabe des Geländes am Sülzgürtel und der Umzug in das neue Kids-Zentrum. Fast 100 Jahre war das Kinderheim am Sülzgürtel beheimatet und beherbergte zeitweise mehr als 1000 Kinder – und war somit Europas größtes Waisenhaus. 


Die Erziehung übernahmen Ordensschwestern

 

Die Ausstellung zeigt auf 26 großformatigen Schautafeln die Geschichte des Hauses von seinen Anfängen bis heute. Die Tafeln stehen in alten metallenen Säuglingsbetten. „In den Dingern habe ich als Kind noch gelegen“, sagt Werner Küpper, der in den 1950er Jahren im Waisenhaus lebte. „Ich war fast 20 Jahre im Heim, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Da gab es gute und natürlich auch schlechte Zeiten. Wichtig ist aber nur, dass diese Geschichte nicht vergessen wird.“ Im Jahr 1917 zogen die städtischen Kinderheime auf das rund 40 000 Quadratmeter große Gelände in Sülz. 


So sah das Kinderheim vor einigen Jahren aus, bevor es abgebrochen wurde. Die Kapelle blieb stehen.
So sah das Kinderheim vor einigen Jahren aus, bevor es abgebrochen wurde. Die Kapelle blieb stehen.
Foto: Hennes
 
 
Für die Erziehung waren die Ordensschwestern zuständig. Nur der Direktor war städtischer Bediensteter. 1944 wurde das Haus weitgehend zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut. 2009 wurde das Kinderheim schließlich geschlossen, der Abbruch erfolgte ein Jahr später. Die Gebäude befanden sich in einem völlig maroden Zustand, eine Sanierung hätte sich nicht mehr gelohnt. Auch unter fachlichen Gesichtspunkten war die Masseneinrichtung am Sülzgürtel mit Lehrlingsheim, Großküche, Krankenzimmern und Schwimmbad überholt. „Eine hohe Mauer umgab das Dorf-Areal wie eine Burg oder Stadt, ein Kloster, es war auch einer Kaserne oder einem Gefängnis ähnlich“, sagt Selter, die die Einrichtung seit 2005 leitet. Mauern können Schutz bieten aber auch abschrecken und beengend wirken.
Diese gegensätzlichen Erfahrungen spiegeln sich auch in Erinnerungen ehemaliger Bewohner wider, von denen Selter berichtet. Ein Betroffener hatte ihr es so geschildert: „Für mich bot diese Einrichtung, die ja in gewisser Weise ein Ghetto war, einen für mich erforderlichen Schutz. Später igelte ich mich immer mehr ein, fühlte mich entsprechend einsam.“


22500 Kinder lebten bis 2010 in der Einrichtung

 

Deshalb sind die derzeit rund 300 betreuten Kinder und Jugendlichen bei Kids auf 30 Wohngruppen im gesamten Stadtgebiet verteilt. Die kleineren Einheiten ermöglichen besseren Kontakt ins öffentliche Leben und damit eine bessere Integration. Auch der geänderte Name, weg vom Kinderheim hin zum Kids-Zentrum, soll vermeiden, dass die Bewohner diskriminiert werden. Auch die dunklen Seiten der Kinderheim-Historie werden in der Chronik nicht ausgespart. So gibt es ein Kapitel über die Zeit des Nationalsozialismus und dem damaligen Direktor Friedrich Tillmann, der am Euthanasie-Programm der Nazis mitgewirkt hat.

„Er hatte überhaupt keine pädagogische Berufsausbildung, war aber Mitglied der NSDAP“, sagt Rolf Koch. Neben den Gitterbetten und dem Gründungsvertrag hat Koch zahlreiche weitere Objekte aus der Geschichte des Hauses zusammengetragen und in Vitrinen ausgestellt. Etwa eine Kugel aus der Kegelbahn des Heims, auf der die Kinder Spaß haben konnten. „Viele Dinge habe ich wirklich aus dem Müllcontainer geholt, als wir das Haus am Gürtel aufgegeben haben“, sagt Koch.
Auf einem großen Banner im Ausstellungsraum sind zudem alle 22 500 Namen der Kinder aufgelistet, die bis 2010 in der Einrichtung gelebt haben. „Wir sind es den Bewohnern schuldig, die Wurzel des Heims zu erhalten“, sagt Lie Selter.
 

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