Die Kritik richtet sich vor allem an Deutschland, Belgien und die Niederlande: Menschenrechtspolitiker in Ankara werfen europäischen Ländern vor, Kinder türkischer Einwanderer ihrer Kultur zu entfremden. Oft würden sie "illegal" von ihren Familien getrennt und in Heime gesteckt.
"Assimilation der Kinder in europäische Kulturen"
Die Kommission hatte nach Beschwerden aus den drei Ländern eine Untersuchung im Juni angeordnet. Demnach seien die meisten Kinder von türkischen Staatsangehörigen wegen angeblicher Misshandlungen, finanzieller Probleme "oder sonstiger falscher Vorwürfe" in staatliche Obhut genommen worden. Das habe zum "Bruch der Familie" und zu einer "Assimilation der Kinder an europäische Kulturen" geführt, sie jedoch von ihren eigenen Traditionen entfernt. In vielen Fällen hätten die Kinder zudem den Kontakt zu ihrer Familie verloren. Alles in allem würden sie der türkischen Kultur "entfremdet".
Der Vorsitzende der Kommission, Ayhan Sefer Üstün von der regierenden AK-Partei, hatte bereits im Frühjahr Kritik in drei Fällen aus Belgien geäußert. Die belgischen Behörden hatten Kinder aus türkischstämmigen Familien bei homosexuellen Paaren untergebracht. Für Üstün ist das ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte, weil die Lebensweise und die Überzeugungen gleichgeschlechtlicher Paare nicht vereinbar seien mit denen der türkischen Familien. Vielmehr werde diesen Kindern ein anderer Lebensstil "aufgezwungen".
Allgemein kritisiert der Bericht, dass nicht genügend Rücksicht genommen werde auf die kulturellen und religiösen Werte der betroffenen Familien. "Obwohl nahe Verwandte bereit stehen, um für die Kinder zu sorgen, werden sie von den Behörden nicht in Erwägung gezogen", heißt es dort. In Problemfällen sollten Kinder aber Verwandten oder zumindest "Familien mit ähnlichem kulturellen Hintergrund" gegeben werden, wo sie die Möglichkeit hätten, auch ihre Muttersprache zu pflegen.
Die Kritik passt zur aggressiven Tonlage von Premierminister Recep Tayyip Erdogan seit einiger Zeit. Sie erinnert an Auftritte des Regierungschefs in Deutschland vor drei Jahren, als er seine Landsleute vor "zu viel Anpassung" warnte und forderte, Türkisch, nicht Deutsch müsse die Erstsprache von Kindern türkischer Eltern sein. "Ihr seid meine Staatsbürger!", rief er ihnen zu. Beobachter vermuten dahinter auch verletzten Stolz, weil es mit den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU nicht vorangeht. Der am Mittwoch vorgestellte EU-Fortschrittsbericht betonte zwar, man halte an einer Fortsetzung der Gespräche fest, kritisierte aber das harte Vorgehen der türkischen Polizei gegen regierungskritische Demonstranten.
Weiterer Tiefpunkt im Verhältnis zwischen EU und Türkei
Die Kritik am Umgang mit türkischen Kindern ist ein weiterer Tiefpunkt im Verhältnis zwischen EU und Türkei. Erdogans Vize Bekir Bozdag erklärte kürzlich, die Türkei setze "alle diplomatischen Hebel in Bewegung", um die Kinder aus staatlicher Obhut in anderen Ländern herauszuholen und ihren Familien zurückzugeben. Auch Bozdag nannte als Grund, dass die meisten Heime und Pflegeeltern nicht dieselben Werte teilten wie türkische Familien.
Das Bundesjugendministerium teilte auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mit, es gebe keine Zahlen darüber, wie viele Minderjährige mit türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland jährlich in Obhut genommen würden. In der Statistik werde aber zwischen Minderjährigen mit deutscher und mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit unterschieden. Im Jahr 2011 seien demnach insgesamt 38.456 Kinder in Obhut genommen worden, davon 5627 nichtdeutsche Kinder und Jugendliche.
- wenn der Minderjährige selbst darum bittet
- wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes es erfordert und die Sorgeberechtigten nicht widersprechen oder
- wenn es ein familiengerichtliches Urteil darüber gibt.
Das deutsche Sozialgesetz sieht im Fall von Misshandlungen und Gefahr für die Kinder vor, dass sie "bei einer geeigneten Person" oder "in einer geeigneten Einrichtung" untergebracht werden. Doch was unter "geeignet" zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen in Deutschland und in der Türkei auseinander.
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