2012/03/23

Heimskandal: Der lange Schatten der Nazis

Prügelstrafen und Missbrauch: Wie sich die NS-Ideologie auch nach 1945 in Wiener Heimen auswirkte.


 

Gibt es Querverbindungen des Nazi-Arztes vom Spiegelgrund zum Kinderheim Wilhelminenberg? Die zuständige Kommission will die Hintergründe klären.
Die Erziehungsmethoden in Wiener Kinderheimen erinnerten bis in die 1970er-Jahre und darüber hinaus frappant an die NS-Zeit. Immer mehr kristallisiert sich nun heraus, dass dies keine Einzelbeobachtungen waren. Auch der Psychiater und Neurologe Ernst Berger spricht von „systematischen Sadismus“ in den Wiener Heimen (der KURIER berichtete am 23. Februar) . Dieser Sadismus – körperliche und psychische Gewalt sowie sexueller Missbrauch – wurzelt in der NS-Ideologie.

Nicht nur ideell, auch personell ist Kontinuität beweisbar. Der (2005 verstorbene) Euthanasie-Arzt vom Spiegelgrund, Heinrich Gross, machte im BSA (Bund sozialistischer Akademiker) Karriere und wurde einer der gefragtesten psychiatrischen Gutachter der Nachkriegszeit. Das Medikament „Luminal“, mit dem am Spiegelgrund Hunderte Kinder ins Jenseits befördert worden sind, kam auch (als anerkanntes Beruhigungsmittel) 1982 im Lehrmädchenheim Wien-Nußdorf zum Einsatz. Dem KURIER liegt ein offizieller Heimbericht vor: Gabriele S. wurde am 7. Mai 1982 mit Vergiftung durch Luminal ins Wilhelminenspital gebracht. Begründung der Erzieherin Hermine Z.: Das Mädchen habe die Tabletten „während eines Telefonats“ (als die Erzieherin abgelenkt war) entwendet und 30 Stück absichtlich eingenommen. Gabriele S. hat überlebt.

Die im November des Vorjahres gegründete Wilhelminenberg-Kommission versucht derzeit unter anderem, den Zusammenhang zwischen Spiegelgrund und dem Heim Schloss Wilhelminenberg aufzuklären. Es gibt Gerüchte, dass Heinrich Gross nach dem Krieg auch in diesem Heim als Psychiater tätig war. „Es ist interessant, wo die Kinder vom Spiegelgrund nach dessen Schließung hingekommen sind und wer sie begleitet hat“, sagt Barbara Helige, die Leiterin der Kommission.

Nazi als Heimchef

Weit weniger bekannt als Gross’ Karriere ist, dass ein ehemaliges NSDAP-Mitglied in den 50er-Jahren zum Chef aller Wiener Kinder- und Jugendheime befördert wurde. Hans Krenek war, wie der Arzt Gross, zur Zeit der NS-Herrschaft am Spiegelgrund tätig. Allerdings nicht in der medizinischen Anstalt, sondern im angeschlossenen Erziehungsheim – als Direktor.
Nach dem Krieg wurde Krenek bald reingewaschen. Der Rehabilitierung folgte (wie bei Gross) die Mitgliedschaft in BSA und SPÖ. 1954 wurde Krenek von der Stadt Wien zum Referatsleiter in der Magistratsabteilung 17 bestellt – er war somit für alle städtischen Heime verantwortlich.

Ein ehemaliger Nazi-Pädagoge und Leiter des Heimes am Spiegelgrund war somit für sämtliche Kinderheime und somit auch für deren Personal verantwortlich. Was es mit Kreneks Pädagogik auf sich hatte, gab er bereitwillig bekannt: In dem Buch „Unser Kind. Ein Hilfsbuch der Erziehung“, das er 1946 veröffentlichte. Peter Malina attestiert ihm in dem Buch „Verfolgte Kindheit“ (Hg. Ernst Berger, Verlag Böhlau, 2007): „Doch blieben in seinem (Kreneks, Anm.) Gedächtnis überdeutlich die Normen der NS-Erziehung.“

Der Direktorin des Heimes am Wilhelminenberg, Hildegard Müller, wird ebenfalls Nähe zur NS-Ideologie nachgesagt. Sie war bis zu der Heim-Schließung 1977 dessen Leiterin. Ehemalige Erzieherinnen schildern, dass bei ihr „Zucht und Ordnung“ geherrscht haben. „Es gibt Hinweise, dass Müller beim BDM (die Nazi-Organisation Bund Deutscher Mädel, Anm.) tätig war“, erklärt der Psychiater Ernst Berger. Auch unabhängig von den drei Protagonisten erinnern die Inhalte mancher psychologischer Gutachten von Heimkindern und Handlungsweisen von Erzieherinnen und Erziehern an die Methodik der Nazi-Zeit. Psychologen nennen Kinder bis in die 1970er-Jahre „debil“, „verwahrlost“, „irre“ und „schwachsinnig“; wurden von den Kindern Missstände aufgezeigt, sind sie als „Lügner“ abgestempelt worden.

Strafen

Heimkinder mussten Erbrochenes essen, wurden mit nassen, verknoteten Handtüchern geschlagen oder mit dem Kopf in die Klomuschel getaucht. Nächtliche Strafen wie der „Entengang“ sind heute noch vielen ehemaligen Zöglingen des Heims Hohe Warte ein Begriff. Frauen berichten, von Erzieherinnen als „Judenbankert“ und „Hurenbankert“ abgekanzelt worden zu sein. Diese Vorwürfe ziehen sich wie ein roter Faden durch die Wiener Heimgeschichte nach 1945. „Faschistoide Zugänge waren sicher da“, sagte die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits bereits vergangenen Oktober im KURIER-Interview. Sexueller Missbrauch war gang und gäbe. 100 Gespräche mit ehemaligen Heimkindern hat Ernst Berger ausgewertet. 47 Prozent der Befragten wurden in den Wiener Kinderheimen sexuell missbraucht (der KURIER berichtete).

 

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