In den kommunalen Jugendhilfeausschüssen, welche die Jugendämter kontrollieren und über Maßnahmen und Mittel entscheiden sollen, sitzen u.a. auch Mitglieder, deren persönliche Interessen eng mit Amt und Mandat verknüpft sind: Familienrichter, Verfahrenspfleger und Vertreter freier Träger, die aufgrund ihrer beruflichen Belange in einen nicht zu verantwortenden Interessenskonflikt geraten, gestalten maßgeblich die dort zu treffenden Entscheidungen mit. Der Dienst am Kindeswohl, um den es lt. Kinder- und Jugendhilfegesetz geht, muss mithin wegen der zahlreichen wirtschaftlichen Interessen des „Jugendamtsystems“ stark in Zweifel gezogen werden. Hierfür sei ein Beispiel genannt: Eine Diplom-Psychologin wurde vom Amtsgericht Celle mit einem Sachverständigengutachten zur Frage des Umgangsrechts einer Kindesmutter mit ihren beiden Kindern beauftragt. Offensichtlich aus Sorge, nicht auch weiterhin mit zahlreichen Aufträgen versorgt zu werden, kommt die Gutachterin zu folgender Aussage in ihrem Gutachten: „Sollten aus finanziellen oder organisatorischen Gründen solche von Fachkräften begleitete Besuchskontakte nicht möglich sein, müssten zum Wohle der Kinder die Zusammentreffen ausgesetzt werden“ (Hervorhebung durch die Autorin).
Auch das Jugendamt gerät häufig in den Strudel konkurrierender Interessen (Kindeswohl vs. Kommunaler Haushalt, vs. finanzielle Absicherung der Heime, vs. Wahlversprechen des zuständigen Sozialdezernenten, Landrats etc.), die ihm zur Zerreißprobe werden, zumal es juristisch, psychologisch, medizinisch schlecht ausgestattet ist. Es bewegt sich daher in einem rechtsfreien (genauer: in einem rechtlich unklaren) Raum, und eine Fachaufsicht, die dem entgegen wirken könnte, ist weder vorhanden, noch vorgesehen.
Die fehlende Spezialisierung der Jugendamtsmitarbeiter und die personelle Unterbesetzung führen zudem nicht selten zu vermeidbaren Familiendramen und damit zu massiven Traumatisierungen von Familien. Daneben gibt es das Bestreben der Richter, ihre Beschlüsse „beschwerdesicher“ zu fassen. Deshalb werden gesteigert Sachverständige und Verfahrenspfleger in Familienstreitigkeiten von den Gerichten beauftragt. Das hat wiederum dazu geführt, dass sich ganze Gutachter- und „Anwalt des Kindes“ -Industrien herausgebildet haben, die nicht nur ihre Dienste, sondern auch das Ergebnis ihrer Expertisen an den Bedürfnissen einflussreicher Interessensgruppen ausrichten; das können ausgeschöpfte oder noch unangetastete Budgets, überlastete oder nicht ausgelastete Jugendheime, richterliche Vorurteile oder (im schlimmsten, aber durchaus vorkommenden Fall) die eilends nachgeholte Absolution für Fehlentscheidungen kommunaler Beamter sein.
Seit geraumer Zeit müssen sich zahlreiche Psychologen mit Rechtsfällen befassen, in denen unqualifizierte Jugendamtsmitarbeiter psychologische und psychiatrische Diagnosen gestellt hatten, die sie später per Gefälligkeitsgutachten bestätigt bekamen. Die damit begründeten Gerichtsbeschlüsse wurden häufig wiederum, bei Beschwerde, durch weitere Gutachter und Richter „kollegial“ bestätigt.
Die Zahl der Herausnahmen von Kindern aus Familien durch staatliche Institutionen ist in den letzten Jahren gravierend gestiegen. Ein Grund dafür ist die reißerisch publizierende Boulevardpresse, die in der jüngsten Vergangenheit die in Deutschland beklagten Kindstötungen für höhere Auflagen benutzte und das einträgliche Geschäft für die freien Träger der Familienhilfe. Die sensationslüsterne und oftmals tendenziöse Berichterstattung führte zu eilends herbeigeführten und wenig durchdachten neuen Gesetzen, welche die Aufgaben und die Verantwortung der Jugendämter neu regelten. Das Ergebnis war eine Zunahme nicht nur der Macht, sondern auch der Verantwortung der Jugendämter, denen eine neue Rolle, die des Wächters über das Wohl aller Kinder, zugewiesen wurde (1). Dies ging wiederum mit einer wachsenden Komplexität ihrer Aufgaben einher, bis hin zur Überforderung. Denn die Jugendämter sind dafür weder mit der passenden Infrastruktur, noch mit ausreichender Personaldecke, noch mit allen notwendigen Qualifikationen, noch mit den zur Deckung dieser Defizite benötigten Mitteln ausgestattet worden. Ab dem 1. September diesen Jahres tritt nun nach zahlreichen Gesetzesnovellierungen seit der umfassenden Kindschaftsrechtsreform 1998, das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Kindeswohlgefährdung in Kraft.
Auf grundlegende Mängel familienpsychologischer Gutachten hat bereits eine wissenschaftliche Studie hingewiesen, die Mitte der 1980er Jahre im Auftrag zweier Bundesministerien (Justiz, Familie) [2] erstellt wurde. Dort heißt es in der Zusammenfassung (S. 112): „Misst man die Qualität des Gutachtens an den in den beteiligten Fachwissenschaften und der Rechtsprechung aufgestellten fachlichen Anforderungen, schneiden die meisten Gutachten schlecht ab. Häufig sind die Erhebungen nicht vollständig, schlecht dokumentiert und die Empfehlung nicht nachvollziehbar begründet.”
Auf sehr häufig mangelhafte Gutachten für Familiengerichte machte auch die Gesellschaft für Psychologie auf ihrem 40. Kongress 1996 aufmerksam [3].
Ernst Elmar Bergmann, Richter am Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt führt hierzu aus (“Auswahl und Rolle des Gutachters im familiengerichtlichen Verfahren” Referat, Tagung “Kindeswohl – Dilemma und Praxis der Jugendämter”, Ev. Akademie Bad Boll, 4. – 6. November 1996 (erschienen in der Tagungsdokumentation Nr. 6/97 vom 3. Februar 1997 des Evangelischen Pressedienstes, Frankfurt/M.):
„Ein weiteres Problem, das zur Einschaltung von psychologischen Sachverständigen in den familiengerichtlichen Verfahren führt, ist das Bestreben der Richter, die Entscheidung “beschwerdesicher” zu machen. Wir leben in einer Zeit, wo die Meinung vorherrscht, ein Sachverständiger könne alles besser und sei eine Wunderwaffe für alle Gelegenheiten. Dieser Irrglaube feiert insbesondere im Betreuungsrecht Urstände, wo sogar in völlig eindeutigen Fällen, bei denen jedermann sofort auf den ersten Blick erkennt, dass dieser Mensch nicht mehr für sich selbst sorgen kann, ein Sachverständigengutachten eingeholt werden muss.“
(1) § 8a, SGB VIII, Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (2005)
[2] Schlussbericht des Projekts Psychologische Gutachten in Prozessen vor dem Familiengericht, vorgelegt von Christoph Werst / Dr. Hans-Jörg Hemminger; Projektleiter: Dr. Peter Dietrich; Universität Freiburg; 112 SS. + Anhang (Typoskript, ohne Jahresangabe, wohl 1985) Ausgewertet wurden insgesamt 118 Gutachten, die von 70 über das gesamte Bundesgebiet verteilten Gerichten in Auftrag gegeben waren
[3] so berichtet Jochen Paulus in ‚Die Zeit‘ Nr. 41 vom 4.10.96; nach Bergmann aaO (FN 10)
Eine Reportage von Andrea Jacob
Teil 1 der Artikelserie:http://tv-orange.de/2012/12/hat-deutschland-aus-seiner-unruehmlichen-vergangenheit-nichts-gelernt/
Teil 2 der Artikelserie: http://tv-orange.de/2012/12/gustl-mollath-ist-kein-einzelfall-die-erlebnisse-von-professor-christidis/
Teil 3 der Artikelserie: http://tv-orange.de/2012/12/ihr-kinderlein-kommet-und-die-sarkastische-wirklichkeit-der-praxis-von-jugendamt-und-justiz
[2] Schlussbericht des Projekts Psychologische Gutachten in Prozessen vor dem Familiengericht, vorgelegt von Christoph Werst / Dr. Hans-Jörg Hemminger; Projektleiter: Dr. Peter Dietrich; Universität Freiburg; 112 SS. + Anhang (Typoskript, ohne Jahresangabe, wohl 1985) Ausgewertet wurden insgesamt 118 Gutachten, die von 70 über das gesamte Bundesgebiet verteilten Gerichten in Auftrag gegeben waren
[3] so berichtet Jochen Paulus in ‚Die Zeit‘ Nr. 41 vom 4.10.96; nach Bergmann aaO (FN 10)
Eine Reportage von Andrea Jacob
Teil 1 der Artikelserie:http://tv-orange.de/2012/12/hat-deutschland-aus-seiner-unruehmlichen-vergangenheit-nichts-gelernt/
Teil 2 der Artikelserie: http://tv-orange.de/2012/12/gustl-mollath-ist-kein-einzelfall-die-erlebnisse-von-professor-christidis/
Teil 3 der Artikelserie: http://tv-orange.de/2012/12/ihr-kinderlein-kommet-und-die-sarkastische-wirklichkeit-der-praxis-von-jugendamt-und-justiz
Sehr gut, dass hier auf die Jugendhilfeausschüsse hingewiesen wird. Da sitzen übrigens nicht u. a. Mitglieder, deren Interesse eng mit dem Amt verbunden sind, sie sitzen dort in der Regel. Wer sich dafür interessiert, sollte sich diese Ausschüsse namentlich anschauen, im Anschluss örtliche Jugendhilfeeinrichtungen googeln und die Namen der Geschäftsführer mit diesen Personen vergleichen. Da macht man wissentlich den Bock zum Gärtner und kann als Betreiber einer Einrichtung mitbestimmen, ob die Einrichtung nun wirklich nötig ist, oder wie viel Mittel dafür bewilligt werden. Es ist so unglaublich, was in diesem Bereich der guten Menschen möglich ist!
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