Sachverständige vor Gericht
Der Richter als "Krypto-Zivilschöffe"
01.09.2013
Anzeige
Mit einem "Tropfen technischen Öls" sollten Jurastudenten oder Referendare "gesalbt" werden. Diese Forderung, die Juristenausbildung um naturwissenschaftliche Aspekte zu ergänzen, kam beim Deutschen Juristentag auf, der 1910 in Danzig stattfand. Die "Deutsche Richterzeitung" berichtete damals von Vortragsreihen für die Herren Richter, die sich dem technischen Weltwissen ihrer Zeit stellten.
"Dampfmaschinenbau, Verbrennungsmotoren, Nahrungsmitteluntersuchung, Lokomotivtechnik, Münzfälschungen, Gerichtsmedizin und Kriminalpsychologie, Meteorologie", zählt Lorenz Franck in diesem Zusammenhang in seiner 2013 verteidigten Kölner Dissertation "Juristen und Sachverständige" auf. Darin untersucht er die Frühgeschichte des forensischen Sachverständigenwesens – zur Zeit des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des NS-Staats.
An die Stelle starrer Beweisregeln hatten die modernen Prozessordnungen seit Anfang des 19. Jahrhunderts die freie richterliche Beweiswürdigung gestellt. Dies wiederum stellte den Gesetzgeber und die gerichtliche Praxis vor die Frage, in welcher Form das überlegene wissenschaftliche und technische Wissen sachkundiger Personen für künftige Prozesse nutzbar gemacht werden könnte.
Juristen und Justizkritiker sprechen hier etwas schamhaft von der Abhängigkeit der Gerichte von den Gutachtern. Dass ein Wissens- und Machtgefälle zwischen Jurist und Arzt existiert, zum Beispiel wenn die Schuldfähigkeit des Beschuldigten in einem Strafprozess ex post zu bewerten ist, wurde schon zu Kaisers Zeiten so gesehen, im Gegensatz zur Gegenwart aber geradezu leidenschaftlich diskutiert.
Im Spannungsfeld zwischen juristischem und naturwissenschaftlich-technischem Sachverstand sahen in den frühen Jahren der 1878 etablierten Gerichtsverfassung und der modernen Straf- und Zivilprozessordnung (StPO, ZPO) aber nicht nur die Juristen ihr Renommee gefährdet. Die Interessen der Gutachterseite vertrat unter den Reichstagsabgeordneten, die sich der Materie angenommen hatten, Friedrich Karl August Zinn (1825-1897).
Medizinischen Sachverständigen war, wie sie in Petitionen an Zinn klarmachten, beispielsweise daran gelegen, dass Gutachten über strafrechtliche Zurechenbarkeit die Gerichte binden sollten. Koryphäen auf dem Gebiet der Psychiatrie, als Staatsdiener von der eigenen Würde überzeugt, wollten sich nicht der Schmach ausgesetzt sehen, dass ein medizinischer Laie in Richterrobe ihre Gutachten aus Gründen der "freien Beweiswürdigung" barsch verwerfen könnte. Doch ihr Anliegen blieb in der Gesetzgebungskommission, die bis auf Zinn nur aus Juristen bestand, erfolglos.
"Dampfmaschinenbau, Verbrennungsmotoren, Nahrungsmitteluntersuchung, Lokomotivtechnik, Münzfälschungen, Gerichtsmedizin und Kriminalpsychologie, Meteorologie", zählt Lorenz Franck in diesem Zusammenhang in seiner 2013 verteidigten Kölner Dissertation "Juristen und Sachverständige" auf. Darin untersucht er die Frühgeschichte des forensischen Sachverständigenwesens – zur Zeit des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des NS-Staats.
Beweisrecht trifft auf moderne Wissenschaft und Technik
Ein "Frühschoppen im Salzbergwerk 400 Meter unter der Erde" zeigte zwar, dass schon zu Kaisers Zeiten die heitere Seite beruflicher Fortbildung nicht zu kurz kam. Doch das juristische Interesse an naturwissenschaftlicher und technischer Bildung war nicht zuletzt eine Reaktion auf ein selbst wahrgenommenes Defizit, das über die Fachpublizistik hinaus unter dem Schlagwort der "Weltfremdheit der Juristen" öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr.
An die Stelle starrer Beweisregeln hatten die modernen Prozessordnungen seit Anfang des 19. Jahrhunderts die freie richterliche Beweiswürdigung gestellt. Dies wiederum stellte den Gesetzgeber und die gerichtliche Praxis vor die Frage, in welcher Form das überlegene wissenschaftliche und technische Wissen sachkundiger Personen für künftige Prozesse nutzbar gemacht werden könnte.
Spielarten des Beratungsparadoxons
In den zuweilen fragwürdigen gerichtspsychiatrischen Gutachten bzw. ihrer unkritischen Verwertung durch Gerichte zulasten weggesperrter Bürger in jüngster Zeit, eigentlich aber von jeher in jedem Gutachten, das in seiner Komplexität die Grenzen einer guten Schul- und Allgemeinbildung übersteigt, manifestiert sich das sogenannte Beratungsparadox. Ihm begegnet heute auch manches Management, das sich McKinsey & Co ins Haus holt: Wenn die herbeigerufenen Helfer alles, was relevant ist, besser wissen als jene, denen die Entscheidung formal zugewiesen ist, warum entscheiden sie dann nicht gleich selbst?
Juristen und Justizkritiker sprechen hier etwas schamhaft von der Abhängigkeit der Gerichte von den Gutachtern. Dass ein Wissens- und Machtgefälle zwischen Jurist und Arzt existiert, zum Beispiel wenn die Schuldfähigkeit des Beschuldigten in einem Strafprozess ex post zu bewerten ist, wurde schon zu Kaisers Zeiten so gesehen, im Gegensatz zur Gegenwart aber geradezu leidenschaftlich diskutiert.
Ausflug in die wilden Jahre unserer Gerichtsverfassung
Einer der führenden Köpfe der sogenannten Freirechtsschule, der badische Rechtsanwalt Ernst Fuchs (1859-1929) beispielsweise, nannte den in der Sache jeweils nur begrenzt kundigen Richter Spitz einen "Krypto-Zivilschöffen". Das muss in den Ohren des Berufsrichters ausgesprochen boshaft geklungen haben, denn schließlich hatten die zwölf Laienrichter, die bis 1924 in deutschen Geschworenengerichten über die Schuldfrage entschieden, nicht eben den Ruf, den intellektuell leistungsfähigsten Teil der deutschen Justiz zu bilden.
Im Spannungsfeld zwischen juristischem und naturwissenschaftlich-technischem Sachverstand sahen in den frühen Jahren der 1878 etablierten Gerichtsverfassung und der modernen Straf- und Zivilprozessordnung (StPO, ZPO) aber nicht nur die Juristen ihr Renommee gefährdet. Die Interessen der Gutachterseite vertrat unter den Reichstagsabgeordneten, die sich der Materie angenommen hatten, Friedrich Karl August Zinn (1825-1897).
Medizinischen Sachverständigen war, wie sie in Petitionen an Zinn klarmachten, beispielsweise daran gelegen, dass Gutachten über strafrechtliche Zurechenbarkeit die Gerichte binden sollten. Koryphäen auf dem Gebiet der Psychiatrie, als Staatsdiener von der eigenen Würde überzeugt, wollten sich nicht der Schmach ausgesetzt sehen, dass ein medizinischer Laie in Richterrobe ihre Gutachten aus Gründen der "freien Beweiswürdigung" barsch verwerfen könnte. Doch ihr Anliegen blieb in der Gesetzgebungskommission, die bis auf Zinn nur aus Juristen bestand, erfolglos.
Seite 1/2
- Seite 1: Vorträge zum Dampfmaschinenbau und Reiberein mit Sachverständigen
- Seite 2: Gutachterliche Albernheiten und Francks frischer Blick
Kommentare
01.09.2013 19:36
Die Rechtswissenschaft mag keine richtige Wissenschaft sein, die Psychiatrie ist es aber auch nicht. Hier wird doch genauso hermeneutisch gezaubert und einer wie Gerd Postel (fachfremd, keine Ahnung, und davon reichlich) wäre in jedem anderen Berufsfeld aufgefallen. Da Postel aber wohl sprachbegabt ist, hat er sich da bestens bewährt. Die klinische Psychologie und die Psychiatrie schleppen immer noch eine psychoanalytische Hypothek mit sich herum.
RalphE Auf diesen Kommentar antworten05.09.2013 16:54
Der Aufhänger Mollath ist nur zum Teil richtig.
Das BVerfG hat es korrekt benannt:
Bevor (!) die Vorstellung eines Angeklagten dem Gutachter übergeben wird, sollte das Gericht geprüft haben, ob dessen "Vorstellung" der Wahrheit entspricht. Das ist nicht Aufgabe des Gutachters, der bei solchen "Vorstellungen" berufsbedingt von "Wahn" ausgeht. Das findet auch Niederschlag im allgemeinen Zeitgeist, denn jeder, der nicht an die besten Absichten bei staatlichen Insittutionen "glaubt", wird schnell in den paranoiden Verdacht gestellt. Dabei ist eigentlich jedem aufgrund bloßer Lebenserfahrung klar, dass es auch gesundes Misstrauen geben kann.
Psychiatrie ist keine Wissenschaft, da stimme ich RalphE zu, nicht nur wegen psychoanalytischer Hyptheken sondern wegen der Beliebigkeit der Glaubenslehren und der Zeitgeistigkeit der DRM-Definitionen. Abe rim Fall Mollath ist die Verantwortung - auch und gerade für die Würdigung der Gutachten - m.E. ausschließlich bei der Justiz zu suchen, die es sich hier SEHR bequem gemacht hat!
Leo Auf diesen Kommentar antwortenDas BVerfG hat es korrekt benannt:
Bevor (!) die Vorstellung eines Angeklagten dem Gutachter übergeben wird, sollte das Gericht geprüft haben, ob dessen "Vorstellung" der Wahrheit entspricht. Das ist nicht Aufgabe des Gutachters, der bei solchen "Vorstellungen" berufsbedingt von "Wahn" ausgeht. Das findet auch Niederschlag im allgemeinen Zeitgeist, denn jeder, der nicht an die besten Absichten bei staatlichen Insittutionen "glaubt", wird schnell in den paranoiden Verdacht gestellt. Dabei ist eigentlich jedem aufgrund bloßer Lebenserfahrung klar, dass es auch gesundes Misstrauen geben kann.
Psychiatrie ist keine Wissenschaft, da stimme ich RalphE zu, nicht nur wegen psychoanalytischer Hyptheken sondern wegen der Beliebigkeit der Glaubenslehren und der Zeitgeistigkeit der DRM-Definitionen. Abe rim Fall Mollath ist die Verantwortung - auch und gerade für die Würdigung der Gutachten - m.E. ausschließlich bei der Justiz zu suchen, die es sich hier SEHR bequem gemacht hat!
05.09.2013 23:23
Man kann nun wirklich nicht guten Gewissens, im Fall Mollath die Schuld auf die unfähigen, ja offensichtlich kriminellen Gutachter schieben. Das gebeugte Urteil hat ein kranker Richter gesprochen und nur der ist dafür verantwortlich! Und natürlich die Arschkriecher von Beisitzern und Schöffen, daß sie ihn nicht stoppten. Aber das ist ja ein Typischer Charakterzug in diesen Kreisen: nach oben buckeln, nach unten treten!! Leider!
Rechtsanwaltsservice Auf diesen Kommentar antwortenNeuer Kommentar Wollen Sie mit Visitenkarte kommentieren? Hier klicken und einloggen
Benachrichtgung bei weiteren Kommentaren
http://www.lto.de/recht/feuilleton/f/sachverstaendige-gericht-gutachter-zpo-stpo-rechtsgeschichte/