Kinderrechte vor!
Wenn Heimerzieher Kinder unterwerfen wollen, können die Behörden dagegen nicht vorgehen – weil rechtlich die Gewerbefreiheit über dem Kindeswohl steht.
Jedes Kind hat das Recht auf Schutz und Förderung. Dies gilt umso mehr für Kinder, die nicht von ihren Eltern erzogen werden, sondern in Heimen oder Wohngruppen leben – denn hier übernehmen der Staat und die Heimträger die Erziehungsverantwortung. Durch die runden Tische zur Heimerziehung und zum sexuellen Kindesmissbrauch der Bundesregierung von 2009 bis 2012 wissen wir, wie systematisch Gewalt, Entwürdigung und Missbrauch in Heimen verbreitet waren und dass oft alle Hinweise und Beschwerden von Trägern und Staat unterdrückt wurden.
Trotz erheblicher Veränderungen in der Praxis und in den Rechtsgrundlagen – zuletzt durch das Bundeskinderschutzgesetz zum 1. 1. 2012 – sind junge Menschen in Heimen auch heute noch gefährdet, Opfer von Gewalt und Entwürdigung zu werden. Aktuell bekannt gewordene Beispiele wie die Vorkommnisse in den Heimen der Haasenburg und des Friesenhofes sind keine Einzelfälle.
Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen ist in manchen Heimen nach wie vor eine Pädagogik aktuell, für die Eltern sich zu Recht strafbar machen würden. Eine stufenweise Einschränkung von Grundrechten wird mit entwürdigenden Erziehungsmethoden verbunden.
Opfer sind vor allem junge Menschen, die zahlreiche Beziehungsabbrüche und Betreuungssituationen hinter sich haben und als schwer erziehbar abgestempelt werden. Für diese jungen Menschen – so wird behauptet – seien entwürdigende Erziehungsmethoden und Freiheitsentzug die letzte Möglichkeit, ihnen zu helfen.
Dies ist durch alternative Konzepte und Forschung zwar widerlegt – hält sich aber leider noch in den Köpfen und in der Praxis. Kein Wunder, dass sie dadurch auch in Teilen der Politik weiter als Ultima Ratio für unverzichtbar gehalten werden.
Zum anderen ist der Gewerbeschutz von Trägern im Gesetz besser geschützt als das Kindeswohl und die Rechte von Kindern. Dies widerspricht eindeutig der Kinderrechtskonvention der UN und der Grundrechte-Charta der EU (Art. 24), nach denen das Kindeswohl immer vorrangig zu berücksichtigen ist.
Im Kinder- und Jugendhilfegesetz findet sich ein Rechtsanspruch auf eine Betriebserlaubnis für die Träger und eine Kooperationsverpflichtung für die Landesjugendämter, die so weit geht, dass selbst die Heimaufsicht keine unangekündigten Kontrollen durchführen kann. Selbst der Begriff der Heimaufsicht taucht nicht im Gesetz auf, sondern wird trägerfreundlich umschrieben.
Die deutsche Rechtsprechung bestätigt den Vorrang der Gewerbefreiheit gegenüber dem Kindeswohl selbst bei ambulanten Erziehungshilfen in der Familie. Die Jugend- und Landesjugendämter dürfen diesen Zugang nicht durch fachliche Vorgaben einschränken.
Aktuell sind Gutachten auf dem Markt, nach denen keine Mindestraumgrößen, Mitarbeiterqualifikation oder Möglichkeiten von Außenkontakten vorgegeben werden dürfen. Ebenso wenig dürfen entwürdigende Erziehungsmethoden wie die Einschränkung von Brief- und Besuchskontakten, Hausarreste, Isolationsstrafen und Körperkontrollen ausgeschlossen werden.
Junge Menschen in Heimen sind dadurch rechtloser als im Jugendstrafvollzug. Diese Kinder und Jugendlichen haben fast nirgendwo in Deutschland unabhängige Ombudsstellen außerhalb ihrer Einrichtung, an die sie sich mit Beschwerden wenden können, obwohl dies zu den Verabredungen der runden Tische zur Heimerziehung und zum sexuellen Kindesmissbrauch gehört.
Deshalb ist eine Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen nicht nur in ihren Familien, sondern auch in Heimen dringend überfällig. Ombudsstellen müssen eingerichtet, Vorgaben für eine dem Kindeswohl dienende Heimerziehung erlassen und entwürdigende Erziehungsmethoden verboten werden. Dazu müssen auch die Rechte der Heimaufsicht gestärkt und erweitert werden.
Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Änderung ist inzwischen auch von Bund und Ländern anerkannt. In einer Arbeitsgruppe wird an entsprechenden Vorschlägen gearbeitet. Darüber hinaus brauchen wir aber auch eine solidarische Bündnispartnerschaft für den Vorrang des Kindeswohls. Die Träger und Verbände müssen den Mut haben, sich gegen schwarze Schafe und die sie begünstigenden Regeln abzugrenzen.
Gerade da, wo ermutigende Erfahrungen mit Kinder- und Jugendbeteiligung gemacht wurden, wo nachgewiesen wurde, das auch sehr belastete Kinder und Jugendliche in Heimen die Chance auf eine selbstständige Lebensführung bekommen können, und zwar ohne Entwürdigung und Entzug der Menschenrechte, sollte die Mitwirkung an neuen Regeln und an einer besseren Praxis vorbildhaft sein.
Erforderlich ist dazu die Bereitschaft, im Interesse des Kindeswohls an einer Praxis mitzuwirken, die die Rechte der Kinder auch gegenüber Trägerautonomie und staatlichen Eingriffen schützt.Dazu brauchen wir starke freie Träger, die ihre Macht im Interesse der Kinder und Jugendlichen nutzen und auf falsche Privilegien verzichten. Insbesondere dürfen sich Träger, die entwürdigende Erziehungsmethoden anwenden, nicht mehr in die Solidarität der anderen freien Träger und Wohlfahrtsverbände flüchten können.
Für mich besteht kein Zweifel, dass Kinder und Jugendliche in der Mehrzahl der Heime Hilfe und Unterstützung bekommen und dort eine neue Heimat auf Zeit finden. Es besteht aber auch kein Zweifel, dass zu viele Kinder in Heimen sind, zu viele ohne Not weit von ihrem Umfeld entfernt untergebracht sind und gerade die besonders belasteten Jugendlichen oft in Heimen leben, die nach entwürdigenden Konzepten arbeiten.
Jugendämter, die immer noch Heime mit entwürdigenden Erziehungsmethoden belegen und ihre Aufsichtsfunktion ohne Einbeziehung der Kinder- und Jugendlichen ausüben, selbst wenn es zahlreiche Hinweise auf Missstände gibt, sind in der Pflicht, ihre Praxis sofort zu ändern.
So erfüllen wir den Auftrag der UN-Kinderrechtskonvention, Kinder und Jugendliche zu schützen. Um es mit den Worten des Dichters Khalil Gibran zu sagen: „Unsere Kinder sind nicht unsere Kinder – sie sind die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.“
Den ganzen taz.nord-Schwerpunkt zur Heimerziehung lesen Sie in der taz.am Wochenende oder hier.
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