Kinder- und Jugendhilfe-Verbund (KJHV) und in Deutschland der größte Veranstalter von Reisen für sozial auffällige Jugendliche. Seit Gründung seines Vereins vor drei Jahren hat er Dutzende von Klienten ins Ausland geschickt - auf Kosten der Jugendämter.
Jugendliche
Kamelritt ins Glück
Die beiden Sozialarbeiter hatten die Reise aufwendig geplant: fünf Monate Radtour durch die schönsten Naturschutzgebiete Neuseelands, eine Woche Erholung auf einer Südseeinsel, über Ostern zwei Wochen Strandurlaub auf Hawaii und schließlich zwei Wochen Abenteuer in Kanada mit Expeditionen zur Bären- und Walbeobachtung.
118 200 Mark war den Jugendämtern Köln und Düsseldorf der Halbjahrestrip wert, auf den sie Jennifer*, 15, und Monika, 19, mit zwei Sozialarbeitern schickten. Die Mädchen waren schwerste Dauerproblemfälle: Sie hatten sich prostituiert, nahmen Drogen, waren mehrfach bei Diebstählen erwischt worden, galten als verwahrlost und hatten die letzten Jahre in Heimen und Psychiatrien verbracht. Weit weg von Deutschland sollten sie innere Ruhe finden, um in der Heimat ein neues Leben beginnen zu können.
* Alle Namen der Jugendlichen geändert.
Das allerdings ging gründlich schief. Von Beginn der Reise an waren die Mädchen übellaunig und unkooperativ. Während die Sozialarbeiter Michael Geist, 32, und Steffi Jöst, 29, vorbildlich auf ihren Rädern durch Neuseelands Berglandschaft strampelten, ließen sich ihre Zöglinge an manchen Tagen von Autofahrern hinterherkutschieren.
Auch das Einüben sozialverträglichen Verhaltens wollte nicht gelingen: Jennifer prostituierte sich und verschwand Nacht um Nacht mit fremden Männern. Monika tyrannisierte die Betreuer wiederholt mit der Ankündigung, sich das Leben zu nehmen, betrank sich dann völlig und erbrach alles wieder ins Vorzelt. Abwechselnd prügelte sie sich mit Jennifer und den Sozialarbeitern.
Entnervt überlegten die Erwachsenen, ob sie den Horror-Trip abbrechen sollten. Doch aus Deutschland kamen Durchhalteparolen. Schließlich jettete der Kieler Psychologe Volker Maaß, 51, für fünf Tage auf die andere Seite der Erde, um die zerstrittene Gruppe zu befrieden.
Für ihn stand eine Menge auf dem Spiel, denn er ist Geschäftsführer des Kinder- und Jugendhilfe-Verbunds (KJHV) und in Deutschland der größte Veranstalter von Reisen für sozial auffällige Jugendliche. Seit Gründung seines Vereins vor drei Jahren hat er Dutzende von Klienten ins Ausland geschickt - auf Kosten der Jugendämter. Und weil die ziemlich viel zahlen mußten, sollte auch die Neuseelandreise ein Erfolg werden.
Mindestens 1000 der mehr als 80 000 deutschen Heimkinder sind derzeit zwecks Intensivbetreuung und Resozialisierung im Ausland. Insgesamt wurden in den vergangenen fünf Jahren nach Schätzungen von Experten 5000 Jungen und Mädchen in gut 50 Länder der Welt verschickt. Jedes Kind kostete die Behörden durchschnittlich 100 000 Mark pro Jahr - kaum mehr, als die Jugendämter für die Heimunterbringung schwer Erziehbarer in Deutschland aufbringen müssen. Segeltörns auf der Ostsee, Mitarbeit bei Entwicklungsprojekten in Nicaragua oder auf Bauernhöfen in Irland - versucht wird alles, was auch nur die geringste Chance auf Besserung bietet. Die Jugendlichen, die auf solche Trips geschickt werden, sind so verstört und traumatisiert, so aggressiv oder depressiv, daß alle konventionellen Therapiemethoden bei ihnen versagt haben.
Das pädagogische Konzept der Erlebnispädagogik besagt, daß für die schwierigsten Klienten nur ein radikaler Neuanfang Erfolg verspricht, und der sei nur in einer völlig neuen Umgebung möglich. "Erlebnispädagogische Maßnahmen" wurden Mitte der achtziger Jahre wiederentdeckt und als erfolgversprechender Weg der Pädagogik heftig bejubelt. Darunter fallen Abenteuerspiele, nervenkitzelnde Herausforderungen wie Klettern oder Wildwasserfahren und eben Reisen in fremde Länder. Auf dem Rücken von Kamelen auf dem Sinai oder von Maultieren in Indien sollen verstörte Jugendliche sich seelisch weiterentwickeln und endlich ins Glück reiten.
Der Ansatz geht auf den Pädagogen Kurt Hahn zurück. Er war überzeugt, daß eine kranke Gesellschaft kranke Kinder hervorbringe. Hahn gründete seit den vierziger Jahren sogenannte Kurzschulen, um "die unterprivilegierte Jugend gegen eine kranke Zivilisation zu schützen". Auf dem Lehrplan standen unter anderem "körperliches Training" und "Expedition". Später gründeten Hahn-Anhänger in Europa, Afrika, Asien und Australien "Outward Bound Schools".
In der Fachwelt werde die Erlebnispädagogik seit fünf Jahren wieder verstärkt favorisiert, sagt der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Geeignet sei die Abenteuerpädagogik als Therapie für süchtige oder gewalttätige Jugendliche, denen es an Selbstbewußtsein mangele und die das Gefühl hätten, "nichts auf die Reihe zu kriegen". Die Erlebnispädagogik verschaffte ihnen den Kitzel, den sie sonst nur mit Hilfe von Drogen oder bei Fahrten mit gestohlenen Autos spüren.
Jetzt sind die Erlebnisreisen ins Zwielicht geraten: Einige Sozialpädagogen hatten Resozialisierungsreisen als öffentlich finanzierten Spaßtrip mißverstanden und beispielsweise Inselhopping in der Südsee geplant.
Auch die Zweifel am Erfolg der teuren Langzeiturlaube mehren sich. So erkundigte sich beispielsweise der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Wolfgang Rückert (CDU) in einer Anfrage an das Stuttgarter Sozialministerium, ob die Behörden Jugendlichen kostspielige Auslandsaufenthalte finanzierten, bei denen diese wieder straffällig würden. Die Antwort heißt: in einigen Fällen ja. In Neuseeland lief ein 13jähriger seinem Betreuer davon und schlug sich mit Diebstählen durch; in Irland lud die Polizei junge deutsche Kriminelle vor.
In mehreren Bundesländern weigern sich deshalb Behörden seit einiger Zeit, Heimkinder ins Ausland zu schicken. "Das ist den Bürgern nicht zu vermitteln", sagt Horst Schaletzky vom Landesjugendamt Hessen. Wenn Pauschalurlauber auf Gomera vom Ufer aus zusehen müssen, wie deutsche Crash-Kids auf einer Jacht vorbeirauschen, dann wirft das bei den zahlenden Touristen die Frage auf, ob Verbrechen sich nicht doch lohnt - insbesondere, wenn die Kinder nach der Rückkehr wieder Autos klauen und zu Schrott fahren.
Auch was beispielsweise in Neuseeland passierte, ist nicht gerade als Werbung für Reisepädagogik geeignet: Nach mehreren Prügeleien stürmte Monika mit dem Küchenmesser auf die jüngere Jennifer los und schrie: "Ich bringe dich um!" Der Stich verfehlte nur knapp das Auge, die Wunde mußte in einer 60 Kilometer entfernten Unfallklinik genäht werden. Monika wurde vorübergehend festgenommen und später zu 660 Mark Geldstrafe verurteilt.
Die ausführliche Berichterstattung über den Fall in den neuseeländischen Medien rief den Innenminister des Inselstaates auf den Plan. Die deutsche Botschaft in Wellington konnte ihn nur mit Hilfe des Bonner Auswärtigen Amtes davon abbringen, die Gruppe als unerwünscht aus dem Land zu weisen.
Solche diplomatischen Verwicklungen haben inzwischen auch das Bundesjugendministerium aufgeschreckt. Im Auftrag der Ministerin Claudia Nolte prüft nun erstmals das "Rauhe Haus" in Hamburg, eine renommierte sozialpädagogische Einrichtung, ob die bis zu 400 Mark pro Tag teuren Auslandsprojekte ihr Geld wert sind.
Einige der rund 700 deutschen Jugendämter könnten dabei unter Druck geraten, weil sie ihre Problemfälle wenig vertrauenserweckenden Vereinen überlassen haben, die sich mehr fürs Geschäft als für das Wohl der Kinder interessieren. Der Professor und Sozialpädagoge vom Landesjugendamt in Münster, Wolfgang Gernert, warnt, "daß man im Bereich Abenteuer-, Erlebnis- und Reisepädagogik sehr genau hinsehen muß, um seriös und unseriös zu unterscheiden". Doch damit sind manche Beamte offenbar überfordert. So erklärte ein Mitarbeiter des Jugendamtes Mannheim, es sei nicht seine Aufgabe, die Maßnahmen zu kontrollieren. "Ich bin darauf angewiesen, daß das, was mir von den Erziehern berichtet wird, der Realität entspricht."
Jörg Ziegenspeck, Erziehungswissenschaftler an der Universität Lüneburg, spricht von einer "Sozialmafia", die mit pädagogisch fragwürdigen Fernreisen Millionensummen umsetze. Ziegenspeck, einer der bekanntesten deutschen Reformpädagogen, hat vor einem Jahr den Vorsitz des Bundesverbandes für Erlebnispädagogik niedergelegt: "Ich kann die Geschäfte auf dem Rücken der Kinder nicht verantworten."
Als einer der fleißigsten Kinderverschicker Deutschlands gilt der Kieler Volker Maaß. Zunächst arbeitete er für das Evangelische Jugenddorf Rendsburg. Heute ist er Geschäftsführer des KJHV in Kiel mit Büro in Hamburg und Filiale in Brandenburg. Die von ihm rekrutierten Kinder vermittelt er weltweit. Für seine Dienstleistung verlangt der Maaß-Verein bis zu 380 Mark pro Kind. In der Regel behält er ein Drittel des Pflegesatzes ein, zwei Drittel gibt er an Subunternehmer weiter, die tatsächlich mit den Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Diese großzügige sogenannte Zwei-Drittel-Lösung ist in der der Branche üblich.
Nach diesem Modell wurde auch der Neuseeland-Trip von Jennifer und Monika abgerechnet, den Maaß eingefädelt hatte. Für die 197 Reisetage behielt der Verein 39 400 Mark ein. 78 800 Mark blieben als Urlaubskasse für die vier übrig - knapp 20 000 Mark pro Person.
Der Maaß-Verein gilt als Marktführer im Geschäft mit der Erlebnispädagogik. Innerhalb von dreieinhalb Jahren ist er von null auf 300 betreute Kinder angewachsen. Auch Maaß steigerte sich: Er machte den Pilotenschein und kaufte sich ein Flugzeug.
"Maaß ist der Papst", sagt der Düsseldorfer Sozialarbeiter Klaus Kotzan, "bei dem geht der Zuwachs wie eine Rakete nach oben." Kotzan selbst hatte ein paar Probleme bei seiner ersten Weltreise auf Staatskosten. Als er vor sieben Jahren seine Festanstellung in einem Erziehungsheim kündigte und sich selbständig machte, mußte er regelrecht antichambrieren, um vier Jugendliche zu finden, mit deren Hilfe er seine sechsmonatige Traumtour nach Indien finanzieren konnte. Schließlich stellten ihm befreundete Kollegen aus verschiedenen Jugendämtern "vier kleine Monster", wie er heute sagt, zur Verfügung; plus Steuergelder für den Kauf eines Wohnmobils und für die Reisekasse.
Mit seinen Jugendlichen war der Sozialarbeiter jedoch nicht so recht glücklich, denn sie erwiesen sich, so Kotzan, als "ein Introvertierter, ein extrem Dummer, ein aggressiv Krimineller und ein Mafioso", der schon mit 16 Jahren Drogen für mehr als 100 000 Mark verkauft habe. Auch die Reise verlief anders als geplant. In der Türkei zwang der Golfkrieg den erlebnispädagogischen Stoßtrupp zum Rückzug. Irgendwann endete der mißglückte Ausflug in Griechenland.
Kotzan hat daraus gelernt und konzentriert sich heute mit seinem Düsseldorfer Verein "Outback" auf sogenannte Standort-Projekte, zu denen Jugendliche für einige Zeit bei Pflegefamilien im Ausland ziehen. Sie landen oft bei deutschen Aussteigern, die sich das Leben in der Fremde einfacher vorgestellt hatten und nun nach Möglichkeiten suchen, ihr Einkommen aufzubessern.
Der Auswanderer Jürgen Epsen, früher mal ein Kollege Kotzans, betreut für 5000 Mark im Monat an der australischen Goldküste einen besonders schwierigen Outback-Klienten: Daniel, 15, entgeht mit der Umsiedelung dem Jugendgefängnis. Wegen versuchter Vergewaltigung einer Mitschülerin, Autoeinbrüchen, Diebstählen und Körperverletzung hätte er sich vor Gericht verantworten müssen, wenn Outback ihn nicht ans andere Ende der Welt geschafft hätte. Dem Jugendamt ist dieser Versuch in einem eigentlich aussichtslosen Fall 8889,30 Mark pro Monat wert. Das ist etwa genausoviel, wie sein Aufenthalt in einem deutschen Heim kosten würde.
Fast 4000 Mark bleiben da monatlich für Kotzans Verein Outback übrig, die angeblich für die Verwaltung des Falles, für Reisekosten und allgemeine Betriebskosten benötigt werden. Klaus Kotzan hat seit einiger Zeit "einen Haß auf die miefige Sozialarbeiterszene" mit ihren Turnschuhen, Ikea-Möbeln und klapprigen Golf-Dieseln. Bei ihm sind jetzt Innenraum-Design und ein neuer Saab angesagt. Das bedarf, wie Kotzan sagt, "genauer betriebswirtschaftlicher Überlegungen", die sich mit Kotzans Interesse paaren, "daß sich der Pflegesatz erhöht".
Die meisten Problemkinder werden nicht auf andere Kontinente verschickt, sondern bleiben in Europa. Besonders beliebt sind die Sonnenländer Spanien, Griechenland und Portugal. Nach Schätzungen von Beobachtern in Lissabon halten sich allein an der Algarve regelmäßig bis zu 100 deutsche Heimkinder auf. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil Kindermakler sich oft die Meldeformalitäten sparen. "Da haben wir tolerant operiert", sagt Siegfried Schorn, Leiter des St.-Nicolai-Heims in Sundsacker, das zum Diakonischen Werk gehört.
Schorn war einer der ersten, der unter den etwa 3000 deutschen Aussteigern an der Küste Betreuer suchte - und einer der ersten, die damit in die Schlagzeilen gerieten. Von seinen 280 Schützlingen verschiebt er bis zu 15 pro Jahr in das Urlaubsland und bekommt dafür von den Jugendämtern pro Klient und Monat etwa 6000 Mark.
Jedoch erwartet die Jugendlichen oft alles andere als eine pädagogisch sinnvolle Beherbergung. Der Berliner Sven, 16, von Schorn nach Portugal geschickt, mußte in einer schäbigen Kammer außerhalb des Wohnhauses der Pflegefamilie wohnen. Die Einrichtung bestand aus einer durchgelegenen Matratze, einem wackligen Stuhl, einem schiefen Regal und ein paar Postern. Veronika, 16, ging es nicht viel besser. Sie mußte mit einem Wohnwagen vorliebnehmen, in den sie dann auch einen englischen Kellner aus einer nahegelegenen Kneipe einquartierte. Als Veronika schwanger war, holte Schorn sie nach Deutschland zurück.
Doch auch die Pflegeeltern sind oft überfordert: Der Elektriker Christoph Behr, der ein Stück außerhalb des Dorfes Barrao lebt, hatte bei Schorn einen 15jährigen bestellt, "der mir bei der Arbeit hilft". Statt dessen reiste ein 12jähriger an, der in die Hose machte und überall seinen Kot verteilte. Erst mußte das Kind in einen abgewrackten Wohnwagen umziehen, dann gab Behr auf: "Wir waren total überfordert."
Viele Pflegefamilien haben inzwischen die Zusammenarbeit mit den Kinderverschickern eingestellt. Doch vor allem im Winter, wenn Heizöl gekauft werden muß, tauchen frierende Freaks bei den Vermittlern mit der Bitte auf: "Ey, haste mal ''n Kind für mich?"
Dabei ist mehr als fraglich, ob gerade Aussteiger geeignet sind, schwer integrierbare Jugendliche auf den Einstieg in die deutsche Gesellschaft vorzubereiten. "Die Betreuer haben doch ähnliche Probleme wie die Kinder", kritisiert der Psychologieprofessor Ziegenspeck, "sie sind von der Gesellschaft enttäuscht." Aussteigern Kinder in Pflege zu geben, hält er für "einen groben Fehler".
Einige Organisationen wie das ebenfalls zum Diakonischen Werk gehörende St.-Elisabeth-Heim in Marburg haben deshalb alle Projekte in Portugal eingefroren: "Ich habe hier niemanden gefunden, der qualifiziert genug ist für die schwierige Aufgabe, einem fremden Kind zu helfen", sagt die Heilpädagogin Angelika Andermann nach einem Testaufenthalt an der Algarve.
Dabei brauchen gerade die verschickten Kinder beste fachliche Betreuung - denn sie sind zumeist schwer psychisch gestört und kaum kontrollierbar. Ein Auslandsaufenthalt ist aber nicht nur eine pädagogische Maßnahme - er hält deutschen Behörden die Sorgenkinder für eine Weile vom Hals.
Regina Klasmeyer vom Kreisjugendamt Bad Segeberg zum Beispiel erhielt 32 Absagen, als sie in Deutschland eine Unterkunft für ihren Klienten Peter, 18, suchte. Der war acht Jahre lang im Heim gewesen, dann wochenlang alleine durch Deutschland gezogen, war sexuell auffällig, wurde kriminell und saß zuletzt im Jugendgefängnis. Für 74 821,88 Mark im Jahr wurde sie ihn dann doch noch los: an das Projekt "Buschschule Namibia", das vor zwei Jahren von dem Sozialpädagogen Helmuth Scharnowski gegründet wurde. Jetzt lebt Peter bei einem deutschstämmigen Farmer.
Drei Jugendliche hat Regina Klasmeyer hinterhergeschickt, darunter Martin, 18, der in Deutschland auch nicht erwünscht war: Er wurde von seinen Eltern schwer mißhandelt, versagte in der Schule, vergewaltigte und mißhandelte seine Schwestern sadistisch, zeigte schwerste Aggressionen gegenüber Menschen, Tieren und Sachen, verbrachte lange Zeit in der Jugendpsychiatrie und gilt als völlig verschlossen. Da muß die Farmersfamilie im ehemaligen Deutsch-Südwest schon ziemlich stabil sein, um soviel Lebensterror zu bewältigen.
Doch die Pflegefamilien stießen an ihre Toleranzgrenzen: Einer der von der Buschschule betreuten Jugendlichen verprügelte den Sohn seiner Gasteltern und mußte auf eine neue Farm geschickt werden. Sogar die deutsche Botschaft in Windhuk beschäftigte sich mit den Querelen um die abgeschobenen Problemfälle.
Klaus Voigt, Geschäftsführer des Erziehungsvereins Neukirchen-Vluyn, zitiert solche Vorkommnisse als weiteren Beleg für seine Überzeugung: "Auslandsprojekte müssen nicht sein." Seine Organisation, die früher Kinder nach Irland, Portugal, Griechenland, Frankreich und an die Elfenbeinküste schickte, zieht sich jetzt selbst Grenzen. Am Niederrhein, in der Lüneburger Heide und im Hunsrück fand er Projekte, die mehr Erfolg versprechen als Touren an den Ganges oder mit der Transsibirischen Eisenbahn.
Vor allem ist oft ungeklärt, was mit den Jugendlichen nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland geschieht. Der Hamburger Abgeordnete Rolf Harlinghausen, jugendpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion in der Bürgerschaft, wirft den Behörden vor, es fehlten "effektive Anschlußkonzepte für diese Jugendlichen". Kritiker der Erlebnispädagogik argumentieren außerdem mit Einzelfällen - wie dem des Hamburger Jugendlichen Dirk, der serienweise Autos gestohlen hatte und zwecks Resozialisierung zweimal auf Reisen ging. Begleitet von Erziehern, fuhr er mit einer Gruppe Jugendlicher nach Marokko, Portugal, Tunesien und in die Türkei, insgesamt fast fünf Monate lang. Nach seiner Rückkehr beging er einen Raubüberfall, stahl Schmuck und versuchte ins Drogengeschäft einzusteigen.
Andere kehren lieber erst gar nicht zurück. Nach dem mißglückten Neuseeland-Trip wurde Jennifer auf einer Kanarischen Insel untergebracht, bei einer Bekannten von Maaß. Als Pflegemutter erhält die Maaß-Freundin monatlich 1600 Mark Honorar sowie 3600 Mark Aufwandsentschädigung und Sachkostenerstattung, und weil Jennifer von ihrer Tochter vormittags ein paar Stunden unterrichtet wird, bekommt sie dafür zusätzlich 600 Mark pro Monat. Weitere 3000 Mark behält der Maaß-Verein KJHV ein, unter anderem steht dafür der Sozialarbeiter Michael Geist als Back-up-Betreuer bereit.
Jennifer jedenfalls hat aus ihren langen Auslandsreisen gelernt: "Nach Deutschland will ich nie wieder zurück."
118 200 Mark war den Jugendämtern Köln und Düsseldorf der Halbjahrestrip wert, auf den sie Jennifer*, 15, und Monika, 19, mit zwei Sozialarbeitern schickten. Die Mädchen waren schwerste Dauerproblemfälle: Sie hatten sich prostituiert, nahmen Drogen, waren mehrfach bei Diebstählen erwischt worden, galten als verwahrlost und hatten die letzten Jahre in Heimen und Psychiatrien verbracht. Weit weg von Deutschland sollten sie innere Ruhe finden, um in der Heimat ein neues Leben beginnen zu können.
* Alle Namen der Jugendlichen geändert.
Das allerdings ging gründlich schief. Von Beginn der Reise an waren die Mädchen übellaunig und unkooperativ. Während die Sozialarbeiter Michael Geist, 32, und Steffi Jöst, 29, vorbildlich auf ihren Rädern durch Neuseelands Berglandschaft strampelten, ließen sich ihre Zöglinge an manchen Tagen von Autofahrern hinterherkutschieren.
Auch das Einüben sozialverträglichen Verhaltens wollte nicht gelingen: Jennifer prostituierte sich und verschwand Nacht um Nacht mit fremden Männern. Monika tyrannisierte die Betreuer wiederholt mit der Ankündigung, sich das Leben zu nehmen, betrank sich dann völlig und erbrach alles wieder ins Vorzelt. Abwechselnd prügelte sie sich mit Jennifer und den Sozialarbeitern.
Entnervt überlegten die Erwachsenen, ob sie den Horror-Trip abbrechen sollten. Doch aus Deutschland kamen Durchhalteparolen. Schließlich jettete der Kieler Psychologe Volker Maaß, 51, für fünf Tage auf die andere Seite der Erde, um die zerstrittene Gruppe zu befrieden.
Für ihn stand eine Menge auf dem Spiel, denn er ist Geschäftsführer des Kinder- und Jugendhilfe-Verbunds (KJHV) und in Deutschland der größte Veranstalter von Reisen für sozial auffällige Jugendliche. Seit Gründung seines Vereins vor drei Jahren hat er Dutzende von Klienten ins Ausland geschickt - auf Kosten der Jugendämter. Und weil die ziemlich viel zahlen mußten, sollte auch die Neuseelandreise ein Erfolg werden.
Mindestens 1000 der mehr als 80 000 deutschen Heimkinder sind derzeit zwecks Intensivbetreuung und Resozialisierung im Ausland. Insgesamt wurden in den vergangenen fünf Jahren nach Schätzungen von Experten 5000 Jungen und Mädchen in gut 50 Länder der Welt verschickt. Jedes Kind kostete die Behörden durchschnittlich 100 000 Mark pro Jahr - kaum mehr, als die Jugendämter für die Heimunterbringung schwer Erziehbarer in Deutschland aufbringen müssen. Segeltörns auf der Ostsee, Mitarbeit bei Entwicklungsprojekten in Nicaragua oder auf Bauernhöfen in Irland - versucht wird alles, was auch nur die geringste Chance auf Besserung bietet. Die Jugendlichen, die auf solche Trips geschickt werden, sind so verstört und traumatisiert, so aggressiv oder depressiv, daß alle konventionellen Therapiemethoden bei ihnen versagt haben.
Das pädagogische Konzept der Erlebnispädagogik besagt, daß für die schwierigsten Klienten nur ein radikaler Neuanfang Erfolg verspricht, und der sei nur in einer völlig neuen Umgebung möglich. "Erlebnispädagogische Maßnahmen" wurden Mitte der achtziger Jahre wiederentdeckt und als erfolgversprechender Weg der Pädagogik heftig bejubelt. Darunter fallen Abenteuerspiele, nervenkitzelnde Herausforderungen wie Klettern oder Wildwasserfahren und eben Reisen in fremde Länder. Auf dem Rücken von Kamelen auf dem Sinai oder von Maultieren in Indien sollen verstörte Jugendliche sich seelisch weiterentwickeln und endlich ins Glück reiten.
Der Ansatz geht auf den Pädagogen Kurt Hahn zurück. Er war überzeugt, daß eine kranke Gesellschaft kranke Kinder hervorbringe. Hahn gründete seit den vierziger Jahren sogenannte Kurzschulen, um "die unterprivilegierte Jugend gegen eine kranke Zivilisation zu schützen". Auf dem Lehrplan standen unter anderem "körperliches Training" und "Expedition". Später gründeten Hahn-Anhänger in Europa, Afrika, Asien und Australien "Outward Bound Schools".
In der Fachwelt werde die Erlebnispädagogik seit fünf Jahren wieder verstärkt favorisiert, sagt der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Geeignet sei die Abenteuerpädagogik als Therapie für süchtige oder gewalttätige Jugendliche, denen es an Selbstbewußtsein mangele und die das Gefühl hätten, "nichts auf die Reihe zu kriegen". Die Erlebnispädagogik verschaffte ihnen den Kitzel, den sie sonst nur mit Hilfe von Drogen oder bei Fahrten mit gestohlenen Autos spüren.
Jetzt sind die Erlebnisreisen ins Zwielicht geraten: Einige Sozialpädagogen hatten Resozialisierungsreisen als öffentlich finanzierten Spaßtrip mißverstanden und beispielsweise Inselhopping in der Südsee geplant.
Auch die Zweifel am Erfolg der teuren Langzeiturlaube mehren sich. So erkundigte sich beispielsweise der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Wolfgang Rückert (CDU) in einer Anfrage an das Stuttgarter Sozialministerium, ob die Behörden Jugendlichen kostspielige Auslandsaufenthalte finanzierten, bei denen diese wieder straffällig würden. Die Antwort heißt: in einigen Fällen ja. In Neuseeland lief ein 13jähriger seinem Betreuer davon und schlug sich mit Diebstählen durch; in Irland lud die Polizei junge deutsche Kriminelle vor.
In mehreren Bundesländern weigern sich deshalb Behörden seit einiger Zeit, Heimkinder ins Ausland zu schicken. "Das ist den Bürgern nicht zu vermitteln", sagt Horst Schaletzky vom Landesjugendamt Hessen. Wenn Pauschalurlauber auf Gomera vom Ufer aus zusehen müssen, wie deutsche Crash-Kids auf einer Jacht vorbeirauschen, dann wirft das bei den zahlenden Touristen die Frage auf, ob Verbrechen sich nicht doch lohnt - insbesondere, wenn die Kinder nach der Rückkehr wieder Autos klauen und zu Schrott fahren.
Auch was beispielsweise in Neuseeland passierte, ist nicht gerade als Werbung für Reisepädagogik geeignet: Nach mehreren Prügeleien stürmte Monika mit dem Küchenmesser auf die jüngere Jennifer los und schrie: "Ich bringe dich um!" Der Stich verfehlte nur knapp das Auge, die Wunde mußte in einer 60 Kilometer entfernten Unfallklinik genäht werden. Monika wurde vorübergehend festgenommen und später zu 660 Mark Geldstrafe verurteilt.
Die ausführliche Berichterstattung über den Fall in den neuseeländischen Medien rief den Innenminister des Inselstaates auf den Plan. Die deutsche Botschaft in Wellington konnte ihn nur mit Hilfe des Bonner Auswärtigen Amtes davon abbringen, die Gruppe als unerwünscht aus dem Land zu weisen.
Solche diplomatischen Verwicklungen haben inzwischen auch das Bundesjugendministerium aufgeschreckt. Im Auftrag der Ministerin Claudia Nolte prüft nun erstmals das "Rauhe Haus" in Hamburg, eine renommierte sozialpädagogische Einrichtung, ob die bis zu 400 Mark pro Tag teuren Auslandsprojekte ihr Geld wert sind.
Einige der rund 700 deutschen Jugendämter könnten dabei unter Druck geraten, weil sie ihre Problemfälle wenig vertrauenserweckenden Vereinen überlassen haben, die sich mehr fürs Geschäft als für das Wohl der Kinder interessieren. Der Professor und Sozialpädagoge vom Landesjugendamt in Münster, Wolfgang Gernert, warnt, "daß man im Bereich Abenteuer-, Erlebnis- und Reisepädagogik sehr genau hinsehen muß, um seriös und unseriös zu unterscheiden". Doch damit sind manche Beamte offenbar überfordert. So erklärte ein Mitarbeiter des Jugendamtes Mannheim, es sei nicht seine Aufgabe, die Maßnahmen zu kontrollieren. "Ich bin darauf angewiesen, daß das, was mir von den Erziehern berichtet wird, der Realität entspricht."
Jörg Ziegenspeck, Erziehungswissenschaftler an der Universität Lüneburg, spricht von einer "Sozialmafia", die mit pädagogisch fragwürdigen Fernreisen Millionensummen umsetze. Ziegenspeck, einer der bekanntesten deutschen Reformpädagogen, hat vor einem Jahr den Vorsitz des Bundesverbandes für Erlebnispädagogik niedergelegt: "Ich kann die Geschäfte auf dem Rücken der Kinder nicht verantworten."
Als einer der fleißigsten Kinderverschicker Deutschlands gilt der Kieler Volker Maaß. Zunächst arbeitete er für das Evangelische Jugenddorf Rendsburg. Heute ist er Geschäftsführer des KJHV in Kiel mit Büro in Hamburg und Filiale in Brandenburg. Die von ihm rekrutierten Kinder vermittelt er weltweit. Für seine Dienstleistung verlangt der Maaß-Verein bis zu 380 Mark pro Kind. In der Regel behält er ein Drittel des Pflegesatzes ein, zwei Drittel gibt er an Subunternehmer weiter, die tatsächlich mit den Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Diese großzügige sogenannte Zwei-Drittel-Lösung ist in der der Branche üblich.
Nach diesem Modell wurde auch der Neuseeland-Trip von Jennifer und Monika abgerechnet, den Maaß eingefädelt hatte. Für die 197 Reisetage behielt der Verein 39 400 Mark ein. 78 800 Mark blieben als Urlaubskasse für die vier übrig - knapp 20 000 Mark pro Person.
Der Maaß-Verein gilt als Marktführer im Geschäft mit der Erlebnispädagogik. Innerhalb von dreieinhalb Jahren ist er von null auf 300 betreute Kinder angewachsen. Auch Maaß steigerte sich: Er machte den Pilotenschein und kaufte sich ein Flugzeug.
"Maaß ist der Papst", sagt der Düsseldorfer Sozialarbeiter Klaus Kotzan, "bei dem geht der Zuwachs wie eine Rakete nach oben." Kotzan selbst hatte ein paar Probleme bei seiner ersten Weltreise auf Staatskosten. Als er vor sieben Jahren seine Festanstellung in einem Erziehungsheim kündigte und sich selbständig machte, mußte er regelrecht antichambrieren, um vier Jugendliche zu finden, mit deren Hilfe er seine sechsmonatige Traumtour nach Indien finanzieren konnte. Schließlich stellten ihm befreundete Kollegen aus verschiedenen Jugendämtern "vier kleine Monster", wie er heute sagt, zur Verfügung; plus Steuergelder für den Kauf eines Wohnmobils und für die Reisekasse.
Mit seinen Jugendlichen war der Sozialarbeiter jedoch nicht so recht glücklich, denn sie erwiesen sich, so Kotzan, als "ein Introvertierter, ein extrem Dummer, ein aggressiv Krimineller und ein Mafioso", der schon mit 16 Jahren Drogen für mehr als 100 000 Mark verkauft habe. Auch die Reise verlief anders als geplant. In der Türkei zwang der Golfkrieg den erlebnispädagogischen Stoßtrupp zum Rückzug. Irgendwann endete der mißglückte Ausflug in Griechenland.
Kotzan hat daraus gelernt und konzentriert sich heute mit seinem Düsseldorfer Verein "Outback" auf sogenannte Standort-Projekte, zu denen Jugendliche für einige Zeit bei Pflegefamilien im Ausland ziehen. Sie landen oft bei deutschen Aussteigern, die sich das Leben in der Fremde einfacher vorgestellt hatten und nun nach Möglichkeiten suchen, ihr Einkommen aufzubessern.
Der Auswanderer Jürgen Epsen, früher mal ein Kollege Kotzans, betreut für 5000 Mark im Monat an der australischen Goldküste einen besonders schwierigen Outback-Klienten: Daniel, 15, entgeht mit der Umsiedelung dem Jugendgefängnis. Wegen versuchter Vergewaltigung einer Mitschülerin, Autoeinbrüchen, Diebstählen und Körperverletzung hätte er sich vor Gericht verantworten müssen, wenn Outback ihn nicht ans andere Ende der Welt geschafft hätte. Dem Jugendamt ist dieser Versuch in einem eigentlich aussichtslosen Fall 8889,30 Mark pro Monat wert. Das ist etwa genausoviel, wie sein Aufenthalt in einem deutschen Heim kosten würde.
Fast 4000 Mark bleiben da monatlich für Kotzans Verein Outback übrig, die angeblich für die Verwaltung des Falles, für Reisekosten und allgemeine Betriebskosten benötigt werden. Klaus Kotzan hat seit einiger Zeit "einen Haß auf die miefige Sozialarbeiterszene" mit ihren Turnschuhen, Ikea-Möbeln und klapprigen Golf-Dieseln. Bei ihm sind jetzt Innenraum-Design und ein neuer Saab angesagt. Das bedarf, wie Kotzan sagt, "genauer betriebswirtschaftlicher Überlegungen", die sich mit Kotzans Interesse paaren, "daß sich der Pflegesatz erhöht".
Die meisten Problemkinder werden nicht auf andere Kontinente verschickt, sondern bleiben in Europa. Besonders beliebt sind die Sonnenländer Spanien, Griechenland und Portugal. Nach Schätzungen von Beobachtern in Lissabon halten sich allein an der Algarve regelmäßig bis zu 100 deutsche Heimkinder auf. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil Kindermakler sich oft die Meldeformalitäten sparen. "Da haben wir tolerant operiert", sagt Siegfried Schorn, Leiter des St.-Nicolai-Heims in Sundsacker, das zum Diakonischen Werk gehört.
Schorn war einer der ersten, der unter den etwa 3000 deutschen Aussteigern an der Küste Betreuer suchte - und einer der ersten, die damit in die Schlagzeilen gerieten. Von seinen 280 Schützlingen verschiebt er bis zu 15 pro Jahr in das Urlaubsland und bekommt dafür von den Jugendämtern pro Klient und Monat etwa 6000 Mark.
Jedoch erwartet die Jugendlichen oft alles andere als eine pädagogisch sinnvolle Beherbergung. Der Berliner Sven, 16, von Schorn nach Portugal geschickt, mußte in einer schäbigen Kammer außerhalb des Wohnhauses der Pflegefamilie wohnen. Die Einrichtung bestand aus einer durchgelegenen Matratze, einem wackligen Stuhl, einem schiefen Regal und ein paar Postern. Veronika, 16, ging es nicht viel besser. Sie mußte mit einem Wohnwagen vorliebnehmen, in den sie dann auch einen englischen Kellner aus einer nahegelegenen Kneipe einquartierte. Als Veronika schwanger war, holte Schorn sie nach Deutschland zurück.
Doch auch die Pflegeeltern sind oft überfordert: Der Elektriker Christoph Behr, der ein Stück außerhalb des Dorfes Barrao lebt, hatte bei Schorn einen 15jährigen bestellt, "der mir bei der Arbeit hilft". Statt dessen reiste ein 12jähriger an, der in die Hose machte und überall seinen Kot verteilte. Erst mußte das Kind in einen abgewrackten Wohnwagen umziehen, dann gab Behr auf: "Wir waren total überfordert."
Viele Pflegefamilien haben inzwischen die Zusammenarbeit mit den Kinderverschickern eingestellt. Doch vor allem im Winter, wenn Heizöl gekauft werden muß, tauchen frierende Freaks bei den Vermittlern mit der Bitte auf: "Ey, haste mal ''n Kind für mich?"
Dabei ist mehr als fraglich, ob gerade Aussteiger geeignet sind, schwer integrierbare Jugendliche auf den Einstieg in die deutsche Gesellschaft vorzubereiten. "Die Betreuer haben doch ähnliche Probleme wie die Kinder", kritisiert der Psychologieprofessor Ziegenspeck, "sie sind von der Gesellschaft enttäuscht." Aussteigern Kinder in Pflege zu geben, hält er für "einen groben Fehler".
Einige Organisationen wie das ebenfalls zum Diakonischen Werk gehörende St.-Elisabeth-Heim in Marburg haben deshalb alle Projekte in Portugal eingefroren: "Ich habe hier niemanden gefunden, der qualifiziert genug ist für die schwierige Aufgabe, einem fremden Kind zu helfen", sagt die Heilpädagogin Angelika Andermann nach einem Testaufenthalt an der Algarve.
Dabei brauchen gerade die verschickten Kinder beste fachliche Betreuung - denn sie sind zumeist schwer psychisch gestört und kaum kontrollierbar. Ein Auslandsaufenthalt ist aber nicht nur eine pädagogische Maßnahme - er hält deutschen Behörden die Sorgenkinder für eine Weile vom Hals.
Regina Klasmeyer vom Kreisjugendamt Bad Segeberg zum Beispiel erhielt 32 Absagen, als sie in Deutschland eine Unterkunft für ihren Klienten Peter, 18, suchte. Der war acht Jahre lang im Heim gewesen, dann wochenlang alleine durch Deutschland gezogen, war sexuell auffällig, wurde kriminell und saß zuletzt im Jugendgefängnis. Für 74 821,88 Mark im Jahr wurde sie ihn dann doch noch los: an das Projekt "Buschschule Namibia", das vor zwei Jahren von dem Sozialpädagogen Helmuth Scharnowski gegründet wurde. Jetzt lebt Peter bei einem deutschstämmigen Farmer.
Drei Jugendliche hat Regina Klasmeyer hinterhergeschickt, darunter Martin, 18, der in Deutschland auch nicht erwünscht war: Er wurde von seinen Eltern schwer mißhandelt, versagte in der Schule, vergewaltigte und mißhandelte seine Schwestern sadistisch, zeigte schwerste Aggressionen gegenüber Menschen, Tieren und Sachen, verbrachte lange Zeit in der Jugendpsychiatrie und gilt als völlig verschlossen. Da muß die Farmersfamilie im ehemaligen Deutsch-Südwest schon ziemlich stabil sein, um soviel Lebensterror zu bewältigen.
Doch die Pflegefamilien stießen an ihre Toleranzgrenzen: Einer der von der Buschschule betreuten Jugendlichen verprügelte den Sohn seiner Gasteltern und mußte auf eine neue Farm geschickt werden. Sogar die deutsche Botschaft in Windhuk beschäftigte sich mit den Querelen um die abgeschobenen Problemfälle.
Klaus Voigt, Geschäftsführer des Erziehungsvereins Neukirchen-Vluyn, zitiert solche Vorkommnisse als weiteren Beleg für seine Überzeugung: "Auslandsprojekte müssen nicht sein." Seine Organisation, die früher Kinder nach Irland, Portugal, Griechenland, Frankreich und an die Elfenbeinküste schickte, zieht sich jetzt selbst Grenzen. Am Niederrhein, in der Lüneburger Heide und im Hunsrück fand er Projekte, die mehr Erfolg versprechen als Touren an den Ganges oder mit der Transsibirischen Eisenbahn.
Vor allem ist oft ungeklärt, was mit den Jugendlichen nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland geschieht. Der Hamburger Abgeordnete Rolf Harlinghausen, jugendpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion in der Bürgerschaft, wirft den Behörden vor, es fehlten "effektive Anschlußkonzepte für diese Jugendlichen". Kritiker der Erlebnispädagogik argumentieren außerdem mit Einzelfällen - wie dem des Hamburger Jugendlichen Dirk, der serienweise Autos gestohlen hatte und zwecks Resozialisierung zweimal auf Reisen ging. Begleitet von Erziehern, fuhr er mit einer Gruppe Jugendlicher nach Marokko, Portugal, Tunesien und in die Türkei, insgesamt fast fünf Monate lang. Nach seiner Rückkehr beging er einen Raubüberfall, stahl Schmuck und versuchte ins Drogengeschäft einzusteigen.
Andere kehren lieber erst gar nicht zurück. Nach dem mißglückten Neuseeland-Trip wurde Jennifer auf einer Kanarischen Insel untergebracht, bei einer Bekannten von Maaß. Als Pflegemutter erhält die Maaß-Freundin monatlich 1600 Mark Honorar sowie 3600 Mark Aufwandsentschädigung und Sachkostenerstattung, und weil Jennifer von ihrer Tochter vormittags ein paar Stunden unterrichtet wird, bekommt sie dafür zusätzlich 600 Mark pro Monat. Weitere 3000 Mark behält der Maaß-Verein KJHV ein, unter anderem steht dafür der Sozialarbeiter Michael Geist als Back-up-Betreuer bereit.
Jennifer jedenfalls hat aus ihren langen Auslandsreisen gelernt: "Nach Deutschland will ich nie wieder zurück."
Der Spiegel
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