2012/05/08

Pflegeeltern außer Kontrolle

Nach dem Fall Chantal: Experte fordert generell mehr Hausbesuche der Behörden 
Von Justin Pietsch

Mitarbeiter des Jugendamtes besuchen Pflegeeltern nach Angaben des Diplom-Psychologen Kay-Uwe Fock nicht immer so oft, wie es sein sollte. "Im Prinzip sollte mindestens einmal pro Jahr ein Hilfeplangespräch erfolgen, dazu auch ein oder mehrere Hausbesuche", sagte der Mitarbeiter des Vereins Freunde der Kinder e. V. Das sei eigentlich das Mindeste, was sein soll. "Aber auch das passiert nicht immer. Da gibt es einen großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis, denn die Mitarbeiter des Jugendamtes sind häufig durch zu viele Fälle überlastet."

Es gebe zwei Wege, auf denen ein Kind in eine Pflegefamilie gelange: Entweder stellen die zukünftigen Pflegeeltern einen Antrag beim Jugendamt. "Da wird dann schon sehr genau geguckt", sagte der Diplom-Psychologe. "Es gibt einen ganzen Katalog an Regeln." So müssten die Pflegeeltern wirtschaftlich unabhängig sein, gesund sein, keine Vorstrafen haben und in der Lage sein, mit dem Kind pädagogisch zu arbeiten. Eine überwundene Drogenabhängigkeit sei aber nicht zwingend ein Ausschlusskriterium. "Es muss natürlich sichergestellt sein, dass das Problem überwunden ist." Aber "natürlich ist so etwas auch fehleranfällig in dem Sinne, dass wohl niemand freiwillig darüber Auskunft gibt. Hier kommt es auf den geschulten Blick der Fachkräfte an." Im Fall Chantal waren die Pflegeeltern drogenabhängig und nahmen die Heroin-Ersatzdroge Methadon, an der die Elfjährige starb.

Der andere Weg sei der sogenannte Nachvollzug. Dabei hätten Freunde oder Verwandte das Kind bereits aufgenommen. Sorgeberechtigte stellen danach beim Jugendamt einen Antrag auf "Hilfe zur Erziehung" und Pflegegeld. "Das Jugendamt kommt also dazu, wenn das Kind schon aufgenommen wurde", sagte der Experte. "Um ein Kind dann da wieder herauszunehmen und in einer geprüften Pflegefamilie unterzubringen, muss man nachweisen, dass das Kindeswohl gefährdet ist." Das müsse man juristisch gut begründen. "Ein Wechsel in eine andere Familie wäre auch wieder eine Belastung für das Kind", sagte Fock. Knapp die Hälfte der Pflegekinder komme auch derzeit noch über den Nachvollzug in Familien.
Generell würden Pflegeeltern händeringend gesucht. "Davon gibt es viel zu wenige." So gebe es in der Hansestadt etwa 1300 Kinder in Pflegefamilien und ungefähr doppelt so viele in Wohngruppen. "Eine Wohngruppe ist viel teurer als eine Pflegefamilie. Aber aus meiner Sicht ist eine gute Pflegefamilie die viel bessere Option für das Kind als eine Wohngruppe. Weil ein Beziehungsnetz da ist, weil engagierte Eltern da sind."

Wenn Eltern vom Jugendamt als Pflegefamilie akzeptiert wurden, erhalten sie Pflegegeld. Das sei nach Alter gestaffelt. "Angenommen, der Pflegesatz beträgt 800 Euro, dann sind etwa 300 Euro Erziehungshonorar. Also das, was den Eltern zur Verfügung steht. Der Rest deckt den Lebensunterhalt des Kindes." Dass Eltern ein Kind bloß wegen des Geldes in Pflege nehmen, komme nur selten vor. Der Verein Freunde der Kinder ist der Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Hamburg und berät Eltern, die ein Pflege- oder Adoptivkind aufgenommen haben. Diese wenden sich aktiv an den Verein. "Die sind gut ausgebildet, aus der Mittelschicht, engagiert, mit gutem Einkommen." Pflegeeltern, die ein Kind über einen Nachvollzug aufgenommen haben, seien durch ein Beratungsangebot sehr schwer zu erreichen.

Im Fall Chantal war das Jugendamt am 4. Januar zuletzt bei der Familie. Damals soll das Mädchen noch ein Weihnachtsgedicht vorgetragen haben, den Mitarbeitern soll dabei nichts in der Wohnung aufgefallen sein. Jetzt soll die Leiterin des Jugendamtes alle Informationen zusammentragen und die Fakten präsentieren. Davon könne auch die Zukunft des Bezirksamtsleiters Mitte, Markus Schreiber (SPD), abhängen. Chantal ist das zweite Kind innerhalb weniger Jahre, das im Bezirk Mitte durch ein Fehlverhalten von Eltern starb, die unter Betreuung des Jugendamtes standen. Lara Mia war 2009 stark unterernährt gestorben.


Die Deutsche Kinderhilfe kritisierte das "krasse Versagen der Hamburger Jugendhilfe". Dies nun auf den Datenschutz zu schieben sei ein "perfides Ablenkungsmanöver von eklatanten Verstößen gegen jegliche Fachlichkeit", erklärte der Vorstandsvorsitzende Georg Ehrmann. In vielen Kommunen würden Krankheiten, Vorstrafen oder Drogenabhängigkeit verlässlich und ohne Verstoß gegen den Datenschutz ermittelt. "Nicht Datenschutz, sondern Ignoranz und fehlende Standards in der Jugendhilfe behindern Kinderschutz. Tragisch ist, dass Hamburg gesetzeskonform handelte."


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