2012/10/24

Sorgerecht: Kampf gegen die Gutachter-Macht

 


23.08.2009 | 18:05 |  GEORGIA MEINHART (Die Presse)
Ein Vater verlor aufgrund einer umstrittenen psychologischen Expertise das Sorgerecht für seinen Sohn. Gegen den Gutachter ermittelt nun die Staatsanwaltschaft.


LINZ. Er sei „konflikthaft“, „verleugnend“ und leide an „narzisstischer Überidentifikation“ mit seinem Sohn. Gegen diese Diagnose hat sich ein Facharzt aus Oberösterreich erfolgreich zur Wehr gesetzt. Sie war der Grund dafür, dass ihm bei Gericht zunächst das Sorgerecht für seinen heute sechsjährigen Sohn entzogen wurde. Nun wird das Verfahren neu aufgerollt.

Dass gegen den Gutachter nun nach Strafanzeigen im vergangenen September Kripo und Staatsanwaltschaft ermitteln, ist für den oberösterreichischen Arzt nicht mehr als ein Etappensieg. 22 Monate dauerte bisher die Auseinandersetzung um seinen Sohn, für sein Recht als Vater und gegen eine psychologische Expertise, die ihm nur eingeschränkte Erziehungsfähigkeit attestierte. Nun gab das Landesgericht Wels seinem Einspruch in allen Punkten statt, das erstinstanzliche Urteil, wonach der Mutter des gemeinsamen Sohnes das alleinige Sorgerecht eingeräumt worden war, ist aufgehoben.

Zeugen wurden ausgeladen

Neue Gutachten sollen nun eingeholt, und Zeugen wie die ehemaligen Kindergärtnerin oder die Tagesmutter seines Sohnes gehört werden. Sie waren von der Richterin in der ersten Verhandlung ausgeladen worden.
Dabei, so der Arzt, hätten sie bestätigen können, dass sein Sohn bis zum vierten Lebensjahr „ein überdurchschnittlich intelligentes Kind, ohne Auffälligkeiten und aufgeschlossen“ war. Als das Kind drei Jahre alt war, kam die Scheidung. Auch ein Jahr danach sei noch alles in Ordnung gewesen, im Kindergarten und zu Hause, so der Kindsvater.


Dann sei der Urlaub mit den mütterlichen Großeltern gekommen, irgendwann in diesem Urlaub sei der Hund der Großeltern umgekommen, dem damals Vierjährigem habe man den Hund aufs Bett nachgeworfen und ihn beschuldigt, das Tier beim Ballspielen zu Tode gehetzt zu haben.
Was sonst noch passiert sei und seither passiert, das wisse man nicht, sagt der Arzt, aber sein Sohn hat nach der Rückkehr aus dem Urlaub wieder Windeln gebraucht, war entweder apathisch oder aufgekratzt, hat gedroht, sich die Augen auszustechen, andere Kinder und sich selbst geschlagen. Im Kindergarten musste er von den anderen isoliert werden.

In der Heilpädagogik gelandet

Nun, zwei Jahre später, ist der Bub in einem heilpädagogischen Kindergarten, in einer Gruppe mit vier zum Teil Schwerbehinderten. Bis entschieden ist, wie es weitergeht, werden wieder Monate, vielleicht auch Jahre vergehen.
Der Vater des Buben hat seinen eigenen Kampf schon vor längerem um einen weitreichenden Nebenschauplatz erweitert. Er bezweifelte die Gutachten, die ihm eine narzisstische Störung und seinem Sohn sowie einem weiteren Kind in seiner Umgebung das extrem seltene Asperger-Syndrom diagnostizierten. Im Zuge seiner Recherchen stieß er auf weitere Betroffene.

Viele von ihnen sammeln seit geraumer Zeit Material, das auch ihre Zweifel an den psychologischen Gutachten bekräftigt, akribisch sind Informationen gesammelt und Dossiers angefertigt worden. Es geht ihnen dabei um den Nachweis gefälschter Testergebnisse und Befangenheit von Sachverständigen. Im Zentrum der Nachforschungen steht oben erwähnter Gerichtsgutachter. Gegen ihn ermitteln auch die Staatsanwaltschaft Salzburg und das Landeskriminalamt Oberösterreich unter anderem wegen Verdachts des Betruges und falscher Beweisaussage.

Verdacht: Test gefälscht?

Besonders augenfällig ist das Ergebnis eines eigentlich genormten Computertests. Sind die Werte einmal eingegeben, erledigt das Programm den Rest. Das heißt: Fehler aus Schlamperei oder Ungenauigkeit sind nach der Eingabe beim streng genormten MMPI-Test nicht möglich.
Trotzdem kommt der umstrittene Psychologe im Fall des oberösterreichischen Arztes bei diesem Test zu einem Wert von 80, also weit außerhalb des Normbereichs. 

Eine Überprüfung mit denselben Eingaben durch einen Statistiker an der Universität Linz ergab aber den Wert von 68, also innerhalb der Norm. Eine Tonbandaufzeichnung, die der 39-jährige während einer Sitzung mitlaufen ließ, zeigt außerdem, dass das Gespräch im Gutachten verkürzt und verfälschend dargestellt wurde: „Außer dem (Name des Kindes, Anm.) bleibt mir nichts“, soll der Arzt gesagt und damit seine Überidentifikation mit dem Kind belegt haben. Tatsächlich sagte er etwas völlig anderes: „Außer dem (Name des Kindes, Anm.) bleibt ihnen nichts an Angriffspunkten an mir und scheinbar haben die nichts anderes zu tun.“

Der „Presse“ liegen Gutachten vor, in denen der psychodiognosische Befund über ganze DINA4-Seiten für unterschiedliche Kindesväter und auch Mütter aus völlig identen Textbausteinen zusammengesetzt ist. Rund 60 solcher gut 100 Seiten umfassenden Gutachten in Obsorgefällen erstellte der Psychologe laut Auskunft des Justizministeriums pro Jahr. Die Kosten: rund 3000 Euro, zu zahlen von den Untersuchten.

Der Gutachter nimmt wegen des laufenden Verfahrens nicht Stellung zum konkreten Fall, er sieht aber eine Kampagne gegen ihn. Der Arzt und auch einige andere Parteien würden seit einiger Zeit versuchen, in diffamierender Weise außergerichtlich, also medial das zu erreichen, was gerichtlich nicht möglich war.

„In Hinblick auf das Vorbringen von Dr. N.N. (Name der Redaktion bekannt), dass Aussagen von ihm unrichtig nicht in voller Länge wiedergegeben wurden, ist anzumerken, dass alle Gespräche auf digitalem Tonträger aufgenommen wurden und von einer Schreibkraft transkribiert werden. Es besteht keine Verpflichtung des Sachverständigen umfassend wie im gegenständlichen Fall Gespräche im Gutachten wiederzugeben“, sagt der Psychologe.
Die „wiederholt behauptete Fälschung“ des MMPI-Tests sei nie Gegenstand eines Verfahrens gewesen: „Ich habe auch nie ein Gutachten oder Gutachtenteile gefälscht.“ Textbausteine würden aufgrund des ähnlichen Aufbaus von Gutachten aus kostenökonomischen Gründen verwendet.

Vorwurf: Befangenheit

Immer wieder ist der Psychologe Befangenheitsvorwürfen ausgesetzt. Drei parlamentarische Anfragen und ebenso viele Wahrnehmungsberichte der österreichischen Rechtsanwaltskammer gab es zu seiner Causa.
Der Psychologe tritt in Verfahren als privater Gutachter auf, in die die Mitarbeiter der ebenfalls von ihm geführten gemeinnützigen GmbH als Familienbetreuer involviert waren. In seinen Gutachten empfiehlt der Psychologe wiederum auch weiterführende Betreuung durch die gemeinnützige GmbH. Bis dato wurde er noch von keinem Gericht als befangen erklärt.

„Gravierende Mängel“

Zu einem alarmierenden Schluss kam im Rahmen eines Haftungsprozesses ein Obergutachten. Im Juni vorigen Jahres hat Günter Köhnken, Rechtspsychologe an der Universität Kiel, eine Expertise seines Berufskollegen in der Luft zerrissen. Das Resümee: „Eine Analyse des schriftlichen Gutachtens der Beklagten hat (...) zu dem Ergebnis geführt, dass in mehrfacher Hinsicht (Auswahl der diagnostischen Verfahren, Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Gutachtenpräsentation, diagnostoische Vorgehensweise bei der Begutachtung, Widersprüchlichkeit der Schlussfolgerungen) diese Anforderungen nicht erfüllt sind.

Die Mängel sind so vielfältig und so gravierend, dass dieses Gutachten nach meiner Überzeugung völlig ungeeignet ist zur Beurteilung der Aussagetüchtigkeit sowie der Glaubhaftigkeit der Angaben der beiden untersuchten Zeugen.“

Es kam zu einem außergerichtlichen Vergleich.


AUF EINEN BLICK
■Tests seien gefälscht, Gutachten aus vorgefertigten Textbausteinen erstellt und Protokolle falsch wiedergegeben worden: Das sind einige der Vorwürfe gegen einen Gerichtsgutachter. Die Staatsanwaltschaft wegen Betrugs und falscher Beweisaussage.
■Betroffen ist auch ein Arzt, der aufgrund der psychologischen Expertise des Gutachters – demnach sei der Mann als Vater konflikthaft und neige zur narzisstischen Überidentifikation– zunächst den Sorgerechtsstreit um seinen Sohn verlor.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2009)


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