Missbrauch vom Vater? Amt nimmt Mutter Kind weg
Eigentlich wollte Katja Schulz ihren Jungen vor Misshandlungen des Vaters schützen. Stattdessen entzog ihr das Jugendamt das Kind.
Jakob lebt in einem Hamburger Kinderschutzhaus. Seit fast sieben Monaten. Nur einmal pro Woche darf Katja Schulz ihren Sohn sehen. Jeden Dienstag steigt sie um 14 Uhr in ihr Auto. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt zum Kinderschutzhaus am anderen Ende der Stadt. "Aber einmal bin ich fast zu spät gekommen - deshalb plane ich jetzt immer eine gute Stunde ein." Damit sie keine Minute mit ihrem Sohn verpasst, wenn sie um punkt 15 Uhr zu ihm darf. Und nach 60 Minuten wieder wegmuss. "Die Abschiede brechen mir jedes Mal das Herz", sagt sie. Doch weinen will sie vor Jakob nicht, sie will stark sein. Die Tränen fließen meistens erst hinterher. Und wenn sie an den 16. Februar dieses Jahres denkt.
Es ist kurz vor 13 Uhr, als es an ihrer Tür klingelt. "Ich habe gerade Spaghetti mit Tomatensoße gekocht", sagt die 41-Jährige, stockt und knetet sich nervös die Hände. Dann berichtet sie von der Mitarbeiterin des Wandsbeker Jugendamts, die vor der Tür steht. Vier Polizisten, eine Gerichtsvollzieherin und zwei weitere Frauen vom Jugendamt begleiten sie. Sie haben einen Gerichtsbeschluss dabei. Darin steht, dass Jakob nicht bei seiner Mutter bleiben darf. Dass sie jetzt die Sachen für ihren Sohn packen muss. Begründung: Katja Schulz sei "bindungsintolerant" dem Vater gegenüber, "paranoid akzentuiert" und "hypochondrisch". Die Behörde glaubt, dass sie sich und ihrem Kind etwas antun könnte. So steht es in einem Gutachten einer Psychologin.
Aus Sicht des Jugendamts wurde der Junge gerettet. Für Rudolf von Bracken, Fachanwalt für Familienrecht, handelt es sich um den größten Hamburger Behördenskandal der vergangenen Jahre. "Das Vorgehen des Jugendamts ist eine Katastrophe. Wenn Jakob nicht innerhalb kürzester Zeit zurück zu seiner Mutter darf, wird er zugrunde gehen", sagt von Bracken, der die Mutter seit März vertritt. "Wenn dieses staatliche Vorgehen einreißt, wäre davor niemand sicher." Dass einer Mutter das Kind weggenommen wird, ist der schwerwiegendste Eingriff, den eine Behörde vornehmen kann. Es geschieht, wenn eine massive Kindeswohlgefährdung vorliegt: wenn Eltern ihr Kind vernachlässigen, ihm nicht genug zu essen geben, es schlagen. Katja Schulz hat nichts von alledem getan. "Eine Kindeswohlgefährdung lag nicht ansatzweise vor", sagt der Anwalt.
Katja Schulz darf ihren Sohn jetzt nur in Begleitung einer Mitarbeiterin der Miko Kinder- und Jugendhilfe GmbH sehen. Dort hat man eine klare Meinung zu dem Fall. Eine Miko-Mitarbeiterin schreibt in einem Brief an das Jugendamt von einer "Gefahr von Leib und Seele" für Jakob - wenn er nicht schnell zu seiner Mutter zurückkommt. Das Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt, ist datiert vom 28. Juni. Doch der Junge muss noch immer im Kinderschutzhaus bleiben. Der einzige Erfolg: Seine Mutter darf ihn jetzt zweimal wöchentlich besuchen. "Ich fühle mich wie in einem Albtraum, aus dem ich nicht erwache", sagt Schulz. "Ich wollte mein Kind doch nur schützen."
Rückblick: Es ist im Februar 2009, als sich Katja Schulz erstmals an eine Erziehungsberatungsstelle in Frankfurt wendet. 20 Jahre lebt sie schon in Hessen. Dort hat sie Andreas (Name geändert) kennengelernt, zog mit ihm zusammen, wurde schwanger. Doch die Beziehung ist längst zerrüttet, als sie einen schrecklichen Verdacht hat. Jakob verhält sich seit einiger Zeit extrem auffällig und äußert sich in einer Art und Weise, die die Mutter vermuten lässt: Der Junge ist vom Vater sexuell missbraucht worden. Sie geht mit dem damals Vierjährigen regelmäßig zum Kindertherapeuten und achtet darauf, dass Jakob und der Vater möglichst nicht alleine sind. Schließlich wendet sie sich an das Frankfurter Jugendamt. Sie macht eine Mutter-Kind-Kur an der Nordsee und kehrt auf Anraten der Behörde nicht mehr nach Hause zurück. Sie ziehen nach Hamburg, wo auch ihre Eltern leben. Die Experten des Jugendamts kommen zu dem Schluss, dass ein Missbrauch in der Tat nicht ausgeschlossen werden kann. Jakobs Vater wird mit den Vorwürfen konfrontiert - doch er streitet alles ab. Das Jugendamt schickt eine sogenannte Sachstandsmeldung an die Kollegen in Hamburg.
Katja Schulz wendet sich in Hamburg an das Familiengericht: Sie möchte das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für Jakob. Doch die Verhandlung im Dezember 2009 endet mit einem Schock. Das Gericht überträgt das Aufenthaltsbestimmungs- und Erziehungsrecht dem Wandsbeker Jugendamt. Außerdem ordnet es an, dass ein Gutachten über die Familie erstellt werden muss. Es ist der Beginn eines Dramas, das bis heute andauert. "Die Entscheidung des Gerichts war völlig unverhältnismäßig und überzogen", sagt Rudolf von Bracken.
Trotzdem ist die Welt für Jakob und Katja Schulz vorerst noch in Ordnung. Die damals 39-Jährige baut sich und ihrem Sohn ein neues Leben auf. Jakob besucht eine Kita und findet schnell neue Freunde. Er wird zu Kindergeburtstagen eingeladen, verabredet sich zum Spielen, genießt die Nähe zu den Großeltern. Den Vater sieht Jakob 2010 nicht. "Die Therapeuten haben mir geraten, den Kontakt zum Vater zu unterbinden, bis der Verdacht des Missbrauchs ausgeräumt ist", sagt sie.
Auch das Jugendamt sieht offenbar keine Probleme. Die "Vormünderin" vom Jugendamt, wie es im Amtsdeutsch heißt, besucht Mutter und Sohn in diesem Jahr laut Schulz nur zweimal. Die Gutachterin sei nur ein einziges Mal für 40 Minuten bei ihr zu Hause gewesen. Vier weitere Male treffen sie sich ohne Jakob, den die Gutachterin mehrmals in der Kita besucht. Katja Schulz hat nach den Gesprächen kein gutes Gefühl. "Ich hatte den Eindruck, dass sie sich schon längst eine feste Meinung gebildet hat." Wie dramatisch das Gutachten ihr Leben verändern wird, erfährt sie erst am 16. Februar 2011, als Polizei und Jugendamt vor ihrer Tür stehen und Jakob mitnehmen. "Das Gutachten war ein Schock für mich. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden", sagt Katja Schulz. Die Einschätzung der Frankfurter Kollegen spielt für das Wandsbeker Jugendamt keine Rolle mehr. Vielmehr kommt die Hamburger Gutachterin zu dem Schluss, dass Jakob nicht sexuell missbraucht worden sei. Zudem werde befürchtet, die paranoid akzentuierte Mutter, die eine symbiotische Bindung zum Kind hätte, könnte einen "erweiterten Suizid" begehen.
Rudolf von Bracken hat für den massiven Eingriff des Jugendamts nur eine Erklärung: "Ich glaube, dass das Jugendamt verschreckt war." Schließlich ging es um sexuellen Missbrauch - also um viel Arbeit und hohe Verantwortung. "Statt selbst genau hinzuschauen, hat sich das Jugendamt hinter einem höchst zweifelhaften Gutachten verschanzt und tut es heute noch."
Was nun folgt, nachdem Jakob in dem Kinderschutzhaus lebt, ist für den Anwalt skandalös. Denn nach nur dreieinhalb Wochen wird Katja Schulz mitgeteilt, dass sie ihren Sohn bis auf Weiteres nicht mehr sehen dürfe. Auch den Großeltern wird das Besuchsrecht verweigert. Und: Die Vormünderin will den Jungen sogar in die Psychiatrie stecken - in Darmstadt, in der Nähe seines Vaters. Als Katja Schulz zufällig durch den Kinderarzt davon hört, bekommt sie Panik. "Ich hatte furchtbare Angst um mein Kind." Für ihren Anwalt ist dieses Vorgehen durch nichts zu rechtfertigen: "Kein Gericht der Welt hätte solch einem Antrag zugestimmt."
Doch Rudolf von Bracken und seine Mandantin kämpfen unerlässlich für den Jungen - und sind zumindest in kleinen Schritten erfolgreich. Nachdem die Gutachterin Vater und Sohn gemeinsam beobachtet hat, legt sie ein Ergänzungsgutachten vor. Das Ergebnis: Es sei nun doch nicht zu befürworten, dass Jakob beim Vater lebe, da dieser gerade mit seiner Freundin in eine andere Stadt gezogen sei und das Kind somit nicht in sein gewohntes Umfeld kommen würde. Von Bracken beantragt daraufhin, dass der Junge unverzüglich zur Mutter zurück und der Missbrauchsverdacht durch ein neues Gutachten aufgeklärt werden muss. Doch das Gericht lehnt beide Anträge ab. Der Anwalt legt Beschwerde beim Oberlandesgericht ein und gibt eine psychologische Stellungnahme zum Gutachten in Auftrag, die Ende Juni vorliegt. In dem 31 Seiten langen Schriftstück listet eine Psychologin diverse Mängel sowie "grobe Verfahrensfehler" des Gutachtens und des Jugendamts auf. Es seien zur Mutter viele Spekulationen enthalten. Die Gutachterin habe ihre Kompetenz in "eklatanter Weise" überschritten.
Zeitgleich schickt die Miko-Mitarbeiterin einen Brief an das Wandsbeker Jugendamt. Ihr Anliegen ist eindeutig: Jakob benötige eine "sehr zeitnahe Rückführung zur Mutter". In der Begründung der Familientherapeutin heißt es: Er nimmt durch die Trennung seelischen Schaden. Zudem wirke Frau Schulz "in vollem Umfang erziehungsfähig". Und dennoch wird bei der Verhandlung vorm Oberlandesgericht Rudolf von Brackens Antrag abgelehnt - Jakob muss im Kinderschutzhaus bleiben. Aber es soll ein neues Gutachten erstellt werden. Es ist ein Strohhalm, an den sich die Mutter klammert.
Katja Schulz und ihr Anwalt sind nicht die Einzigen, die um den Jungen bangen. Auch Eltern, deren Kinder gemeinsam mit Jakob die Kita Martinistraße in Eppendorf besucht haben, setzen sich für den Jungen ein. "Wir alle haben ihn vor anderthalb Jahren als ein fröhliches, aufgewecktes und gut erzogenes Kind kennengelernt", sagt Gernot Stenger. Er ist Anwalt und Vizepräsident des FC St. Pauli. Sein Sohn ist eng mit Jakob befreundet und trifft ihn regelmäßig. "Bei seiner Mutter ging es dem Jungen gut. Doch seit er aus dem vertrauten Umfeld gerissen wurde, ist er verzweifelt." Deshalb hat er mit seiner Frau und zwei weiteren Elternpaaren im Juni einen Brief an das Jugendamt verfasst. "Wir wollten nicht tatenlos zusehen, wie das Kind leidet", sagt der zweifache Vater. Im Schreiben äußern die Eltern ihr Unverständnis darüber, dass ein Kind so lange in einer Einrichtung bleiben muss und es keine Verfahrensfortschritte gibt. "Wir wollen weder für die Mutter noch den Vater Partei ergreifen - uns geht es allein um den Jungen." Deshalb haben sich Gernot Stenger und die anderen Eltern mit zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamts getroffen. Es sei ein sachliches Gespräch gewesen. Doch die Frauen der Behörde kennen nur die Akten. Den Jungen haben sie nie gesehen.
Die Miko-Mitarbeiterin sieht Jakob zweimal die Woche. Er sei ein überdurchschnittlich intelligentes Kind, das seine Belange "überaus reflektiert" wiedergeben kann, schreibt sie in ihrem Bericht an das Jugendamt. Die Besuche der Mutter seien die Höhepunkte seiner Wochen. Zu seinem Vater habe Jakob dagegen "keine tragfähige" Beziehung. Ein emotionaler Austausch finde nicht statt, Jakob meide körperliche Nähe. Der Junge wünsche sich nur eines: endlich wieder bei seiner Mutter zu leben. Als Jakob am 13. August eingeschult wird, ist das Kinderschutzhaus immer noch sein Ersatzzuhause. Immerhin darf Katja Schulz diesen besondern Moment mit ihrem Sohn teilen. Ihr Kind zur Schule bringen, mit ihm Hausaufgaben machen - das darf sie nicht.
Katja Schulz hofft, dass sich das bald ändert. Bei einem Gerichtstermin vor zwei Wochen gibt das Jugendamt eine neue Einschätzung ab: Jakob soll zu seiner Mutter zurück, weil keine akute Kindeswohlgefährdung vorliege. "Die Trennung kann laut Jugendamt zeitnah beendet werden", sagt von Bracken. Zufrieden sei er trotzdem nicht. "Die Gutachterin fordert bei Gericht eine psychiatrische Therapie für Mutter und Kind, bevor sie wieder zusammenkommen." Der Anwalt schätzt, dass sich die Rückkehr des Kindes so um weitere ein bis zwei Monate hinziehen wird. "Das ist inakzeptabel." Die Trennung mache Jakob kaputt. "Es ist ein Irrsinn, den das Jugendamt hier veranstaltet." Rudolf von Bracken fordert: "Jakob muss sofort freikommen. Und es muss sichergestellt werden, dass so etwas nie wieder in Hamburg passiert." Bis zum heutigen Freitag sollen alle Beteiligten zur sofortigen Rückkehr von Jakob zu seiner Mutter Stellung nehmen - eine Anordnung des Oberlandesgerichts. Ob das Jugendamt den Fall heute anders beurteilt? Wandsbeks Bezirkschef Thomas Ritzenhoff (SPD) sagte auf Anfrage des Abendblatts lediglich: "Wir dürfen uns dazu nicht äußern."
Wann Katja Schulz ihrem Sohn wieder Spaghetti kochen und ihm Gute-Nacht-Geschichten vorlesen kann, ist ebenso ungewiss. Ihr bleibt nur, sich auch nächsten Dienstag ins Auto zu setzen und zu Jakob zu fahren. Es wird der Höhepunkt ihrer Woche sein, wenn sie den Siebenjährigen um punkt 15 Uhr in ihre Arme schließen kann. Nach 60 Minuten wird sie ihn wieder verlassen müssen, ihren Sohn noch mal küssen und ihm sagen, dass sie ihn sehr lieb hat. Dann muss sie wieder stark sein.
Hamburger Abendblatt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen