2012/11/15

Feindbild Vater Das entfremdete Kind


 ·  Weil die Mutter es nicht will, sieht Timo seinen Vater viele Jahre lang nicht. Sie redet ihm ein, dass dieser Mann ein Schuft ist, und er glaubt ihr. Erst mit achtzehn sieht Timo ihn wieder. Und fällt aus allen Wolken: Die Mutter hat ihn angelogen.

Die Eltern von Timo Struve* trennen sich, als er sieben Jahre alt ist. Vorangegangen sind jahrelange Zankereien. Nach einem besonders schlimmen Streit verfrachtet die Mutter ihn und seine jüngere Schwester ins Auto und zieht zu einer Bekannten. Am nächsten Morgen muss Timo, der nichts von der ganzen Aktion geahnt hat, in der neuen Stadt auf eine neue Schule gehen. Die Mutter erklärt Timo, dass sie bald wieder zurück zum Vater gehen werden. Er solle ein bisschen nach ihnen suchen, sich entschuldigen, und dann sei alles wieder gut. Ein paar Wochen später findet der Vater seine Familie tatsächlich. Aber er möchte nicht mehr mit der Mutter zusammenleben.

Danach sieht Timo den Vater einige Monate lang nicht, so dass der Vater den Umgang vor Gericht einklagt. In dieser Zeit beginnt die Mutter, schlecht über den Vater zu reden. Als sie zum Beispiel eines Tages Waffeln backen will, stellt sich heraus, dass der Vater das Waffeleisen nach der Trennung behalten hat. Die Mutter sagt: „Er hat es gestohlen.“ Auch über die intellektuellen Fähigkeiten des Vaters lässt sich die Mutter, die aus dem klassischen Bildungsbürgertum stammt, aus. Der Vater kommt aus einer Arbeiterfamilie.


„Seht mal, der zerrt euch schon wieder vor Gericht“

Als der Vater den Umgang mit seinen Kindern nach der Trennung endlich eingeklagt hat, dürfen sie ihn lediglich an drei Tagen im Monat sehen. Obwohl der Vater das Sorgerecht hat und die Eltern zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geschieden sind. Die Mutter boykottiert diesen Umgang, und als der Vater ein neues Verfahren anstrengt, damit der von der Mutter vereitelte Umgang nachgeholt wird, erklärt sie den Kindern: „Seht mal, der zerrt euch schon wieder vor Gericht. Er muss doch wissen, wie sehr ihr das hasst!“ Sie hat recht. Timo hasst es, vor Gericht zu gehen und dort aussagen zu müssen. Jedes Mal wird sein Erscheinen dort von der Mutter zu einer Art Prüfungssituation stilisiert. Sie redet ihm ein, die Leute, mit denen er dort zu tun habe, wollten ihn zum Umgang mit seinem Vater zwingen. Er müsse dies zu verhindern wissen. Doch Timo möchte den Umgang mit dem Vater und hat ihr dies immer wieder gesagt. Seiner Mutter zufolge hatte und hat er den Umgang jedoch nicht zu wollen. Und so hat er irgendwann aufgehört, ihr zu sagen, dass er den Vater sehen will.

Timo glaubt, dass er deswegen in der Vergangenheit manchmal geweint hat, ohne sagen zu können, warum. Einmal geschah dies während eines Spaziergangs, den er mit der Mutter unternahm. Ihm kamen die Tränen, doch er konnte keinen Grund dafür nennen. „Wahrscheinlich war es, weil ich nicht sagen durfte, warum ich traurig war, und das deshalb selbst verdrängt hatte“, meint er heute. Das zweite Mal weint er anscheinend grundlos, als er mit dem Vater im Urlaub ist. Heute vermutet er, dass es deswegen war, weil er lieber beim Vater gelebt hätte. „Dort war es schöner. Er hat uns normal behandelt, wie Kinder. Im positiven Sinne. Er hat mit uns gespielt, uns unser Lieblingsessen gekocht, uns Geschenke gekauft und mit uns die Großeltern besucht.“ Die Mutter indessen habe sich eher um sich selbst gekümmert als um ihn und seine Schwester.


„Alle Gründe, die sie nannte, waren erfunden“

Als Timo in einem der zahlreichen Umgangsverfahren aussagt, dass es ihm bei seinen Großeltern väterlicherseits immer gut gefalle, findet sie das unmöglich von ihm. Vor dem nächsten Gerichtstermin denkt sie sich Gründe aus, aus denen Timo seine Großeltern nicht zu mögen hat. Sie erklärt ihm: „Sag nicht noch mal, dass es dir dort gefällt. In Wirklichkeit gefällt es dir doch gar nicht.“ „Aber alle Gründe, die sie nannte, waren erfunden“, sagt Timo heute. Erfunden sind auch die Erklärungen dafür, dass die Kinder den Vater nicht grüßen sollen, wenn sie ihn vor einem Gerichtstermin antreffen. Timo mag das Gefühl nicht, das er hat, wenn der Vater ihn grüßt und er nicht zurückgrüßen darf. Die Mutter indes grüßt den Vater stets zurück. „Es sollte so aussehen, als wollten wir bloß nicht grüßen“, erinnert sich Timo.

Auch was den Umgang mit dem Vater angeht, stellt die Mutter die Weichen so, wie sie es für richtig hält. Über eine lange Zeit hinweg versucht sie Timo zu überreden, dass er dem Vater schreiben solle, er wolle ihn nicht mehr sehen. Als er elf Jahre alt ist, gibt Timo schließlich auf. „Ich wollte endlich Ruhe vor meiner Mutter haben.“ Er schreibt, was die Mutter ihm diktiert: „Lieber Papa, mir reicht es jetzt mit diesen Gerichtsterminen und ähnlichen Sachen und ich möchte vorerst nichts mit dir zu tun haben.“ Während er schreibt, ist er unwillig und unglücklich, außerdem hat er das Gefühl, dass er seinem Vater unrecht tut und ihn sehr, sehr traurig macht. Doch das alles darf er nicht zeigen. Als er fertig ist, lobt die Mutter ihn: „Das hast du ganz toll gemacht, ich bin sehr stolz auf dich.“ Normalerweise lobt sie ihn nur selten. Timo freut sich über das Lob. Und niemand darf von ihrem Verhalten wissen. Wenn Besuch da ist, behauptet die Mutter selbst im Beisein der Kinder: „Ich will ja, dass sie den Vater sehen, aber die Kinder wollen halt nicht.“ Vor Gericht ist es genauso. Sie sagt: „Da kann ich doch nichts machen, wenn sie nicht wollen.“


„Ich war abhängig von ihr“

Dabei bereitet sie die Kinder auf jeden Prozess wochenlang akribisch vor. Beim Spazierengehen, beim Essen, es ist eine ständige Indoktrination. Sie redet ihnen ein, dass sie den Vater nicht sehen wollen. Heute kommt es Timo vor, als habe sie ihn einer Gehirnwäsche unterzogen: „Ich habe bei ihr gewohnt, sie war meine einzige Bezugsperson und mein Lebensmittelpunkt. Ich war abhängig von ihr. Ich tat immer, was sie wollte. Ich war nie rebellisch, habe mich nie gegen sie durchgesetzt. Ich hatte eher Angst, sie auch noch zu verlieren.“ Der amerikanische Kinderpsychiater Richard Gardner hat diesen Zustand als Parental Alienation Syndrome (PAS), zu Deutsch „elterliches Entfremdungssyndrom“, bezeichnet. Er schätzt, dass neunzig Prozent der Kinder, deren Eltern um das Sorge- oder Umgangsrecht streiten, unter PAS leiden: Sie fühlen sich dem abwesenden Elternteil entfremdet, lehnen ihn ab, betrachten ihn sogar als Feind. Sie wollen ihn nicht mehr sehen, weil das für sie die einzige Möglichkeit ist, der Missachtung ihrer Bedürfnisse durch den umgangsvereitelnden Elternteil zu entgehen und sich dessen Zuneigung zu erhalten. Auch Timo hat gelernt, dass es ihm bei der Mutter bessergeht, wenn er sagt, was sie hören will. Schöne Erinnerungen an die Zeit, als der Vater noch zur Familie gehörte, sind tabu. „Im Nachhinein durften meine Erinnerungen nicht mehr glücklich sein“, sagt Timo. „Sie betrieb Vergangenheitsfälschung.“

Dennoch ordnet der Richter den Umgang des Vaters mit seinen Kindern an, da er der Meinung ist, dies widerspreche dem Kindeswohl nicht: „Timo hat den Eindruck hinterlassen, dass er trotz der großen Belastung, unter der er immer noch steht, nicht grundsätzlich Besuche beim Vater verweigern will“, schreibt er nach einer Begutachtung des Kindes. Doch als der erste richterlich angeordnete Umgangstermin ansteht, fährt die Mutter mit Timo und seiner Schwester übers Wochenende zu Bekannten. Der Vater steht vor verschlossener Tür. „Meine Mutter hat uns deutlich spüren lassen, dass sie meinen Vater für gefährlich hält“, sagt Timo. Sie habe oft Geschichten von früher erzählt, in denen es darum ging, dass der Vater gewalttätig sei. Auch geschlagen habe der Vater sie angeblich. Timo, der diese Geschichten wieder und wieder aufgetischt bekommt, glaubt sie irgendwann. In seinem Attest schreibt ein Psychologe, „dass der Anblick des Vaters Timo in Panik versetzt“.


„Gegen die Besuchsregelung schuldhaft verstoßen“

Nachdem die Mutter sämtliche Umgangstermine hat ausfallen lassen, ordnet der Richter ein Zwangsgeld an für den Fall, dass sie so weitermacht. Sie hat nach „Überzeugung des Gerichts gegen die Besuchsregelung schuldhaft verstoßen“, weitere Verstöße seien zu befürchten. Doch dann wird die Mutter krank, sie leidet an der Vorstufe einer psychischen Erkrankung, einer Art Verfolgungsgedanken. Die Kinder kommen für einige Monate ins Heim, da sie sie nicht mehr betreuen kann. Eine mit dem Fall betraute psychologische Gutachterin empfiehlt nach der Gesundung der Mutter, dass das Gericht den Umgang des Vaters mit den Kindern ausschließen sollte, weil die Mutter sonst vor lauter Stress wieder krank werden könnte. Sie sei aber die wichtigste Bezugsperson der Kinder.
Und genau das geschieht. Der Umgang des Vaters wird ausgeschlossen. Mit der Folge, dass die Bindung zwischen Mutter und Kindern immer noch enger wird. In gewisser Weise fühlt Timo sich so, als habe er überhaupt keinen Vater mehr. Als er älter wird, ändert sich die Situation ein wenig. Nachdem er achtzehn geworden ist, versucht er zaghaft, sich aus der Symbiose, in der er mit der Mutter lebt, zu lösen. Die Spannungen zwischen beiden werden immer größer und eskalieren, als Timo kurz vor dem Abitur steht. Es ist ein Montagabend, und Timo möchte vor dem Schlafengehen duschen. Die Mutter verbietet es ihm: „Das ist zu laut, ich kann dann nicht schlafen.“ Als er widerspricht, schließt sie die Badezimmertür ab und zieht den Schlüssel ab. Timo ist wütend und reißt ihn ihr aus der Hand. Dann duscht er. Es ist das erste Mal, dass er ihre Autorität offen in Frage stellt. Die Mutter regt sich höllisch auf.


„Nimm dein Leben in die Hand“

Als er freitags mittags durchgefroren aus der Schule kommt - es herrscht gerade ein Schneesturm -, passt sein Hausschlüssel nicht ins Schloss. Erst nach einigen Minuten erkennt er, dass es ausgetauscht wurde. Dann entdeckt er den Brief, der vor der Tür liegt. „Lieber Timo, das Nötigste habe ich dir in die Garage getan. Du wirst irgendwo unterkommen und dir dann eine Bleibe suchen. Gib mir Bescheid, wohin ich dir am Montag deinen Unterhalt schicken soll. Nimm dein Leben in die Hand, viel Glück, alles Gute. Mama.“

Timo ist fassungslos, wie versteinert. Die nächsten drei Monate verbringt er im Gästezimmer der Kirchengemeinde. In dieser Zeit macht er das Abitur und sucht sich nebenbei eine Wohnung. Und er nimmt Kontakt zu seinem Vater auf. Denn ihm dämmert, dass nicht alles, was ihm die Mutter in den vergangenen neun Jahren über diesen Mann aufgetischt hat, stimmen muss.


Timo nennt seinen Vater wieder „Papa“

Inzwischen besuchen Vater und Sohn einander regelmäßig. Timo nennt seinen Vater wieder „Papa“. Zunächst fiel ihm das schwer, denn er hatte das Wort als Schimpfwort abgespeichert. Doch nach und nach gewöhnte er sich daran, und das Verhältnis zum Vater wurde innig. Zunächst schien es so, als sei das traurige Kapitel „Kindheit“ in Timos Leben damit abgeschlossen. Doch als er seine Diplomarbeit schrieb, bekam er plötzlich Depressionen. Timo geht davon aus, dass seine Kindheit die Ursache ist. Nach Untersuchungen des psychologischen Gutachters Walter Andritzky trifft seine Vermutung zu: Dem zufolge zieht die Entfremdung von einem Elternteil häufig psychosomatische Reaktionen aller Art nach sich. Die Soziologin Anneke Napp-Peters kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Verlust eines Elternteils meist gravierende Folgen für die Kinder hat: In einer Langzeituntersuchung kommt sie zu dem Schluss, dass der Kontaktabbruch zu Vater oder Mutter „die gravierendste Ursache für scheidungsbedingte Störungen bei Kindern“ sei.

Timo indessen ist nach einer medikamentösen Therapie wieder gesund geworden. Die Mutter hat er seit seinem „Rauswurf“ außer vor Gericht nicht mehr gesehen. Als er ihr vor kurzem einen Brief geschickt hat, um nachzufragen, wo ihr Unterhalt bleibe, benutzte er als Anrede nur ein einziges Wort: „Hallo“. Sie ist ihm gleichgültig. Er will sie nie wieder sehen.

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