2012/11/15

Pflegekinder wurden „wie Viecher“ behandelt

Die Stadt Wien startet eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Ausbeutung und Gewalt an Pflegekindern. Unter den Opfern sind auch Kinder, die auf steirischen Bauernhöfen bis in die 1970er Jahre ausgebeutet und „wie Viecher“ behandelt wurden.

Heime, in denen Kinder Opfer von Gewalt und Missbrauch wurden, sind im vergangenen Jahr zu einem großen öffentlichen Thema geworden. Dass es hunderten Kindern bei Pflegeeltern ähnlich schlecht ergangenen ist, ging aber oftmals unter. Die Stadt Wien startet in diesem Zusammenhang eine wissenschaftliche Untersuchung über das Schicksal von Pflegekindern. Rund hundert Meldungen über psychische, physische und sexuelle Gewalt gingen bereits ein. Insbesondere von Wiener Kindern, die bis in die 1970er-Jahre in der Landwirtschaft ausgebeutet wurden - darunter auch Herta S.
Kind
APA/dpa/Friso Gentsch
Viele Pflegekinder wurden auf Bauernhöfen als Arbeitskraft eingesetzt


„Wir haben keine Kindheit gehabt“

„Wir haben keine Kindheit gehabt“, sagt Herta S. - wenn sie von ihrer Vergangenheit erzählt, kommen ihr immer wieder die Tränen. Als sie zwei Jahre alt war, ist die Mutter der heute 53-Jährigen gestorben. Die Fürsorge brachte Herta und ihren Bruder zu Pflegeeltern in die Südoststeiermark: „Wir waren dort keine Menschen, wir waren wie Viecher. Wir waren die Fürsorgekrüppel.“


„Zuständig für Acker und den Kuhstall“

Ihre Pflegeeltern waren wohl nur am Pflegegeld und an der Arbeitskraft der Kinder interessiert: „Wir waren nur zuständig für den Acker, für den Kuhstall, Holzarbeiten und Heuarbeiten. Es hat kein Lernen gegeben oder irgendwas zum Spielen. Also ich habe mein ganzes Leben nie eine Puppe gehabt.“


Vom Pflegevater geschlagen und missbraucht

Auch Süßigkeiten hätten die vier Pflegekinder nie bekommen, stattdessen oft schimmeliges Brot, erzählt die 53-Jährige. Vom Pflegevater, einem Alkoholiker, bekam sie Schläge, wenn sie beispielsweise zu spät für die Arbeit von der Schule heimgekommen ist: „Da mussten wir uns selbst ein Holzstück holen und mit dem sind wir geschlagen worden.“ Besonders gefürchtet hat sich Herta S. davor, alleine mit dem Pflegevater zu Hause zu sein: „Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, hat es angefangen mit dem Missbrauch.“
Der Missbrauch habe erst aufgehört, als sie der Pflegemutter davon erzählt hatte. 1974, also mit 15 Jahren, verlässt Herta S. die Pflegefamilie. Heute bezeichnet sie ihre beiden eigenen Kinder und ein Enkerl als ihr ganzes Glück. Zu Allerheiligen wird sie in Wien das Grab ihrer allzu früh verstorbenen Mutter besuchen.


„Ganzes Leben verhaut“

Die Folgen der unzähligen traumatisierenden Erlebnisse und der harten Arbeit in der Südoststeiermark sind gravierend: Keine Ausbildung, Bandscheibenvorfälle schon mit 30, zwei Selbstmordversuche, dann medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung: „Es ist eigentlich dein ganzes Leben verhaut. Oft gibt es Tage, wo ich denke, du lebst nicht, du vegetierst eigentlich nur so dahin.“
Herta S. macht Mitarbeiter von Jugendamt bzw. der Fürsorge mitverantwortlich. Denn sie hätten nie alleine mit ihr gesprochen und gefragt wie es ihr geht. Besuche bei der Pflegefamilie waren immer vorangemeldet und höchst vertraut: „Da habe ich Geselchtes bekommen, es sind Eier gerichtet worden, Hendl sind abgestochen worden, dann ist gegessen worden und das haben sie mitgekriegt - jedes Mal, wenn sie gekommen sind.“


Anerkennungszahlung und Therapiestunden

Vor einigen Monaten hat sich Herta S. beim Gewaltschutzzentrum Steiermark gemeldet. Das Wiener Gremium für Fürsorge- und Jugendamtsopfer hat ihr eine Anerkennungszahlung von 30.000 Euro und 80 Therapiestunden zugesprochen. Ihre Meldung ist eine von hunderten Pflegekindern.

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