Es ist eine wahre Geschichte: Den behinderten Eltern Annette und Ingo Kutzner werden ihre Töchter entzogen. Begründung: Sie seien intellektuell nicht in der Lage die Kinder groß zuziehen. Der europäische Gerichtshof entscheidet anders. Die Kinder kommen nach sieben Jahren zu den Eltern zurück.
Das rote Klinkerhaus der Kutzners steht direkt an einer Kreisstraße im Artland, einer feuchten Ebene in Niedersachsen. Drinnen bollert ein Feuer im Kaminofen. Opa Kurt Kutzner, mit 67 Jahren erblindet infolge seiner Zuckerkrankheit, sitzt im Jogginganzug auf einem braunen Cordsofa. Opa und Oma Kutzner leben hier gemeinsam mit ihrem Sohn Ingo und seiner Frau Annette. Die schneidet gerade Brötchen auf und belegt sie mit Mortadella, dann versammelt sich die Familie um den Wohnzimmertisch.
Wann immer die Sprache auf einen Gerichtsbeschluss, ein Dokument oder ein Gutachten kommt, springt Oma Anna Kutzner auf, sucht, und zerrt kurze Zeit später das entsprechende Schreiben hervor, das den Kampf um ihre Enkeltöchter belegt. Sie hat alle Zettel ordentlich abgelegt und die Ordner in fünf schwarzen Koffern aus Lederimitat gesammelt. "Oma, hol doch mal das Papier von den Menschengericht", sagt Opa Kutzner.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass den Kutzners ein Unrecht geschehen ist. Nach einem fünf Jahre währenden Prozessmarathon urteilten schließlich sieben Richter in Straßburg in der "Affaire Kutzer gegen Deutschland" am 26. Februar 2002, dass die Kutzners "unverschuldet als nicht erziehungsfähig" eingestuft worden seien. In der 14-seitigen Begründung heißt es: "Das Gericht erinnert daran, dass allein die Tatsache, dass ein Kind in einem Rahmen aufwachsen könnte, der seiner Entwicklung förderlicher wäre, keine Rechtfertigung dafür ist, es mit Gewalt von einen biologischen Eltern zu trennen."
Nach sieben Jahre kehren die Kinder zurück
"Das war ein glücklicher Tag", sagt Ingo Kutzner. Er macht den Moment nach, als er seine Tochter Nicola, zehn Jahre alt, am 1. Dezember 2003 aus dem Haus ihrer Pflegefamilie abholte, streckt seine Arme in die Höhe und ruft: "Papa, ich bin hier! Nimmst Du mich mit?" Nicola und ihre ältere Schwester Corinna kehrten nach sieben Jahren wieder zu ihren Eltern zurück.
Alles hatte ganz harmlos angefangen. Ein Hausarzt empfahl der Familie, sich bei der Erziehung der Kinder vom Amt unterstützen zu lassen, man könne da auch ein bisschen Geld bekommen. Das war 1993, Corinna war drei Jahre alt, Nicola ein Jahr. Die Frühförderung informierte das Jugendamt, eine Familienhelferin kam und lieferte einen Bericht. Darin stellte sie fest, dass die Versorgung der Kinder mit Nahrung und Kleidung gewährleistet sei, die Kinder offensichtlich der Mittelpunkt der Familie seien und dass sie geliebt würden.
Aber sie schrieb auch, dass die Kutzners sich verhielten, als seien sie selbst noch Kinder. Sie kam zu dem Schluss, dass es nur schwer vorstellbar sei, dass die Kindeseltern aufgrund eigener Defizite ihren Kindern eine gesunde Entwicklung ermöglichen können. Das Jugendamt wandte sich an den "Verein für familienorientierte Sozialpädagogik." Die Pädagogen schlossen sich der Auffassung des Jugendamtes an, dass die Kinder fortan von ihren Eltern getrennt sei müssten: "Eine Verflachung des Intelligenzquotienten ist vorprogrammiert. Eine Chance haben die Kinder durch eine neue Beelterung." Das Amtsgericht Bersenbrück entzog den Eltern das Sorgerecht. Die Eltern, so wörtlich, seien "zu dumm für ihre Kinder".
Die Kutzners lesen jeden Morgen die BILD-Zeitung
Ingo Kutzner arbeitet als Hausmeistergehilfe an einer Schule. Er säubert die Grünflächen und pickt den Hof. Annette Kutzner sortiert Kleider in einem Altkleiderbetrieb, stopft sie in Säcke und beschriftet sie. Die Kollegen sagen, sie sei besonders zuverlässig. Annette und Ingo Kutzner können rechnen und schreiben, sie lesen jeden Morgen die Bild-Zeitung. Kennen gelernt haben die beiden sich auf der Sonderschule für Lernbehinderte. Einen Intelligenztest haben sie nie gemacht, daher wissen sie gar nicht, was für einen IQ sie haben. Im Durchschnitt hat der Deutsche 100, wer 120 hat, gilt als hochbegabt, wer die 70 unterschreitet, als geistig behindert.
"Wir sind nicht blöd im Kopf", sagt Annette Kutzner. "Wir können auch ziemlich gut nachdenken." Die Charaktere ihrer Töchter kann sie genau beschreiben. Corinna wird laut, wenn ihr etwas nicht passt. "Die schreit dann alles aus sich raus." Und Nicola, die Kleine, ist eher still, so wie sie. Sie zieht sich zurück wenn sie Probleme hat und redet nicht mehr. "Meine Frau hat auch alles in sich reingefressen", sagt Ingo Kutzner, "damals". Am 14. Februar 1997, als die Kutzners ihre Kinder im Verein für familienorientierte Sozialpädagogik in Meppen abgeben mussten. "Wir haben ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Wir haben gesagt, dass sie Urlaub machen und da haben sie sich gefreut."
Das erste Mal wiedergesehen haben die Kutzners ihre Kinder zehn Monate später. Die Mitarbeiter des Vereins machten sie darauf aufmerksam, dass sie Corinna und Nicola nicht umarmen sollten. In den folgenden sechs Jahren haben Annette und Ingo Kutzner ihre Töchter einmal im Monat für eine Stunde in den Räumen des Vereins getroffen.
Die Fremdunterbringung kostete 200 Euro montalich
Das erste halbe Jahr blieben Corinna und Nicola dort, dann wurden sie in Pflegefamilien gegeben. Der Verein bekam ein extra Honorar für die Vermittlung einer "Profifamilie", einem Begriff, den sich die Vereinsleiter aus Meppen patentieren ließen. Corinna und Nicola kamen in zwei verschiedene Häuser, weil laut Bericht die Gefahr bestand, die ältere Schwester würde die jüngere dominieren und sie in ihrer Entwicklung behindern. Im Bericht steht auch, dass Nicola besonders in der ersten Zeit immer und immer wieder fragte: "Wo ist meine Schwester?"
Annette und Ingo Kutzner kannten die Familien nicht, bei denen ihre Kinder lebten. Aber sie mussten zahlen, für die ungewollte "Fremdunterbringung" ihrer Töchter, monatlich 200 Mark. Das Jugendamt unterstützte die Pflegefamilien jeden Monat mit 7300 Mark. Damit hätten die Kutzners einen Privatlehrer rund um die Uhr bezahlen können, denn eigentlich sollte ja die drohende geistige Verflachung der Mädchen verhindert werden.
Diverse Gegengutachten von Ärzten und Professoren, in Auftrag gegeben vom Verein "Aktion Rechte für Kinder", empfahlen, die Kinder ihren Eltern zurückzugeben und mit begleitenden Maßnahmen zu unterstützen. Doch die Richter des Vormundschafts- und des Amtsgerichts revidierten ihr Urteil nicht. "Dass das Jugendamt so was macht, dass versteht man nicht", sagt Opa Kutzner.
Geistige Verflachung ist nicht so schlimm wie emotionale
Constanze Lohse arbeitet für die Organisation Lebenshilfe und betreut behinderte Menschen. Auch sie erlebt immer wieder, dass das Jugendamt zu früh eingreift. "Es ist ein Trauma jedes Jugendamt-Mitarbeiters, dass sie für so etwas schreckliches verantwortlich sind wie für den Tod des kleinen Kevin in Bremen", sagt Lohse. "Aber in vielen Familien mit geistig Behinderten klappt das Zusammenleben prima. Mangelnde Bildung kann man gut aufheben mit guten Krippenplätzen, guten Kindergärten, mit Anregungen und integrativen Maßnahmen."
Geistige Verflachung, sagt Lohse, sei nicht so schlimm wie emotionale Verflachung. Viel wichtiger sei, dass die Eltern Hilfe annehmen, der Alltag organisiert ist und das klappe oft besser als in so mancher Familie mit Hochbegabten. "Viele gehen besonders liebevoll mit ihren Kindern um. Sie sind meist nur unsicher, einen eigenen Erziehungsstil zu finden und dabei kann man ihnen helfen", sagt Lohse. "Lernbehinderte oder geistig behinderte Frauen werden Kinder bekommen. Das wird immer so sein. Wir müssen lernen, damit umzugehen."
Corinna Kutzner ist heute 15 Jahre alt, ihre Schwester Nicola 13 Jahre. Auf Wunsch der Eltern besuchen sie ein Internat, nur an den Wochenenden kommen sie nach Hause. "Im Internat können die besser bei den Hausaufgaben helfen", sagt Annette Kutzner. "Wir können ja auch gar kein englisch."
Trotzdem haben die Mädchen Schwierigkeiten in der Schule, besonders Nicolas Zensuren werden schlechter. Ihr Pflegevater ist gestorben, kurz nachdem sie die Familie verließ. Nicola denkt noch immer, es sei ihre Schuld. Ein Wochenende im Monat verbringen die Mädchen bei ihren Pflegefamilien. Während Nicola immer lieber zu Hause bleiben möchte, besucht Corinna ihre Pflegeeltern gerne. Vor ein paar Monaten hat sie mit ihnen einen Ausflug nach Hamburg gemacht und das Musical "König der Löwen" besucht. Bezahlt hat das Jugendamt. "So was können wir uns nicht leisten", sagt Ingo Kutzner.
Er möchte am liebsten, dass das Jugendamt sich nicht mehr einmischt, nicht mehr mit Ratschlägen und auch nicht finanziell. "Sie haben uns immer wieder vorgeworfen, wir könnten den Kindern nichts bieten." Das wollten die Kutzners nicht auf sich sitzen lassen, sie haben gespart und einen Esel gekauft, dem die Kinder den Namen Rasputin gegeben haben. Rasputin grast draußen auf der Weide in der Dämmerung, es ist später Nachmittag geworden. Ingo Kutzner legt einen Holzscheit nach, Annette Kutzner macht sich daran, einen Marmorkuchen zu backen. Morgen kommen die Kinder.
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