Missbrauch und Zwangsarbeit: Erstmals hat ein Ex-Zögling des Landeserziehungsheims St. Martin in Schwaz geklagt: Die Frau verlangt 900.000 Euro.
Von Peter Nindler
Innsbruck – Mit Entschädigungszahlungen und Therapieangeboten reagierten Staat und Kirche auf die Missbrauchsfälle in ihren Institutionen. Wie jetzt bekannt wurde, hat am 21. Oktober am Landesgericht Innsbruck ein brisanter Prozess begonnen. Ein ehemaliges Missbrauchsopfer fordert vom Land Tirol Schadenersatz für erlittene körperliche Gewalt und sexuellen Missbrauch im Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz.
Die Anwälte der heute 70-jährigen Frau, der deutsche Jurist Christian Sailer und sein Innsbrucker Kollege Michael Hohenauer, prangern nicht nur regelmäßigen sexuellen Missbrauch an der damals 16-Jährigen an, sondern auch die Zwangs- und Schwerstarbeit im Heim. Vom Land erhielt die gebürtige Salzburgerin 15.000 Euro. Die Anwälte bezeichnen es als Almosen und führen eine schwere Traumatisierung ins Treffen.
Baur: Land muss sich Prozess stellen
Sozial-Landesrätin Christine Baur (Grüne) spricht vom Teil eines Prozesses. Es habe natürlich Vergleichsverhandlungen mit den Anwälten gegeben, der juristischen Auseinandersetzung, die am 21. Oktober am Landesgericht Innsbruck begonnen habe, müsse sich das Land jetzt stellen. „Wir müssen die Vergangenheit in den Heimen so gut wie möglich aufarbeiten und gleichzeitig versuchen, den Opfern zu helfen und präventiv alles unternehmen, dass Gewalt und Missbrauch an Kindern und Jugendlichen unterbunden wird.“ Sollte sich die heute 70-jährige Frau mit ihren Schadenersatzforderungen durchsetzen, so dürfte dies auch finanzielle Folgen für das Land haben.
„Unsere Opferschutzkommission hat versucht, die finanziellen Ansprüche der Hunderten Missbrauchsopfer objektiv zu bewerten“, sagt Baur. Juristisch betrete man jetzt Neuland, „deshalb muss man die Entscheidungen des Gerichts abwarten“.
Die Verjährung werde ebenfalls beleuchtet. Natürlich könne das Urteil Folgen haben. Das Land hat bisher 234 Missbrauchsopfer in Heimen mit zwei Mio. Euro entschädigt.
Anwalt: „Es war die Hölle“
Von ihrem 16. bis zum 18. Lebensjahr war die gebürtige Salzburgerin im Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz untergebracht. „Durch die zweijährigen Demütigungen und Misshandlungen wurde Frau Heidi K. für den Rest ihres Lebens körperlich und seelisch ruiniert.“ Außerdem sei nichts verjährt, da die Klägerin so traumatisiert sei, dass sie das ihr widerfahrene Leid bis vor Kurzem verdrängt habe.
Die 900.000-Euro-Schadenersatzklage der Frau gegen das Land basiert eben auf den bleibenden seelischen und körperlichen Qualen. „Es war die Hölle“, sagt Anwalt Christian Sailer. Er spricht von gesundheitsschädlicher Schwerstarbeit im Garten und an den Webstühlen, Prügel und Karzer, regelmäßigem sexuellen Missbrauch durch den Hausgeistlichen und gewalttätigen sexuellen Perversionen durch eine lesbische Erzieherin.
Bei den nächsten Prozessterminen werden Zeugen einvernommen, außerdem wird ein Gutachten über das Ausmaß der Traumatisierung der Frau eingeholt.
Arbeit als Teil des Erziehungskonzepts
Rund 100 Mädchen lebten in den 1970er-Jahren im Erziehungsheim des Landes. Sie mussten auch arbeiten, das galt damals als Teil des Erziehungskonzepts. Im Mittelpunkt steht dabei die Lohnwäscherei, die 1963 eingerichtet wurde, „um eine regelmäßige Beschäftigung und volle arbeitsmäßige Auslastung der Zöglinge zu erzielen“, wie es in einem Bericht des Landes aus dem Jahr 1977 heißt. Auch Landesinstitutionen ließen in St. Martin Wäsche waschen. Die Mädchen wurden zudem an andere Firmen wie Swarovski, Eglo oder Darbo ausgeliehen
Die Wahrnehmungen über die Arbeitstherapie gehen jedoch weit auseinander. Angeprangert werden heute Ausbeutung, Zwangsarbeit und geringe Entlohnung auf einem Zöglingskonto. Rund 90 ehemalige Heiminsassen machten beim Land Schadenersatz wegen Heimarbeit in Tiroler Erziehungsheimen geltend. Nächste Woche wird das Land den Endbericht über Heimarbeit von Kindern und Jugendlichen präsentieren.
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