Als Andrea Heyligenstädt vor rund einem Jahr die "Kindertagespflege Indigo" in Lübeck gründete, hatte sie eine genaue Vorstellung davon, wer zu ihr kommen sollte. Ihr Angebot sei für "die neuen Kinder" gedacht - so steht es im Konzept der Einrichtung, die sich auch mit Mitteln der Stadt finanziert. "Man nennt die Kinder inzwischen Indigo-, Kristall- oder Regenbogenkinder und schreibt ihnen besondere Fähigkeiten zu", heißt es weiter.
"Ich erkenne das an den Augen"
Wer Heyligenstädt fragt, woran solche Kinder zu erkennen seien, bekommt zur Antwort: "An der Aura". Je nach Inkarnation sei diese feinstoffliche Hülle entweder indigoblau oder schimmere in verschiedenen Farben. Allerdings könnten nur besonders veranlagte Menschen diese Aura sehen. Heyligenstädt selbst sei zwar nicht hellsichtig, "aber hellfühlig. Ich erkenne das an den Augen", sagt sie. "Indigo-Kinder" seien "Revoluzzer, die alte Systeme aufbrechen" und würden oft als aufsässig missverstanden. "Kristall-Kinder" seien besonders feinfühlig und spirituell hoch entwickelt, "das sind die, die Liebe bringen".
Die 52-Jährige, die sich auch "Avatar Isis" nennt, ist eine überzeugte Esoterikerin und bezeichnet sich selbst als "eines der ersten Indigo-Kinder". Als "Coach für Persönlichkeitsentwicklung" bietet sie außer der Kindertagespflege auch Lebensberatung an, "1 Euro für die Minute" oder auch ein "Intensiv-Coaching" für 196 Euro pro Tag. Ihr Mann Rainer ist Pädagoge und Waldorflehrer. Beide sind als qualifizierte Tageseltern anerkannt und betreuen aktuell zehn Kinder. Bis auf einen einkommensabhängigen Elternbeitrag und die Verpflegung übernimmt der Lübecker Verbund Kindertagespflege die Kosten.
"Problematische Vermischung von Esoterik und Pädagogik"
Eine derartige Vermischung von Esoterik und Pädagogik, wie sie Heyligenstädts Tagespflege-Konzept präsentiert, hält Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, für "ziemlich problematisch". Er hat sich mit dem Phänomen der "Indigo-Kinder" intensiv auseinandergesetzt und bezeichnet die Vorstellung, dass sie eine spezielle Aura haben als "Fantasieprodukt". Das Netz ist voll von Seiten, die das esoterische Phänomen aufgreifen, in Foren diskutieren Eltern über ihre angeblich verkannten "Indigo"-Kinder, die in der Schule Probleme hätten.
"Neue Kinder" - ein esoterisches Phänomen
Das sagen Sektenexperten
Ausländer statt Friedensbringer
Heyligenstädts Kindertagespflege hat sich allerdings bislang anders entwickelt, als sie sich erhofft hat. "Wir hatten eigentlich gedacht, dass wir hier mehr Friedensbringer kriegen." Ihre Erklärung, warum ihr bislang kein einziges "Indigo"- oder "Kristall"-Kind untergekommen sei: "Wir haben hier viele Ausländer, wir sind ja in einem Gebiet, wo viele Asylanten sind", sagt die Frau mit den langen blonden Haaren.
In der Nachbarschaft der Kindertagespflege liegt ein Flüchtlingsheim. Entsprechend "haben wir hier nur drei deutsche und sieben ausländische Kinder". Letztere würden "von ihrer Kultur her nicht erzogen" und bräuchten vor allem Grenzen. Ein Fünfjähriger, den sie betreut, habe kürzlich vor ihr ausgespuckt und sie aufgefordert, ein Puzzleteil aufzuheben. Ein Verhalten, das man - im Rahmen der zuvor beschriebenen Logik - als rebellisches Verhalten eines "neuen Kindes" deuten könnte, aber: "Das ist kein Indigo, meiner Ansicht nach. Der hat so ein ganz altes Schema, was aus der muslimischen Kultur kommt, übernommen und führt das weiter."
"Der Mensch an sich ist hier weiterentwickelt"
Auf Nachfrage argumentiert sie mit einer Mischung aus völkischer Ideologie und Esoterik, dass "wir hier in Deutschland ja schon ein bisschen weiter sind" und führt auf Nachfrage aus: "Der Mensch an sich ist hier weiterentwickelt." Jede Kultur habe eine Gruppenseele, "so ein Kollektivbewusstsein. Und das hat ja auch einen bestimmten Entwicklungsstand." Dass in manchen Ländern Krieg herrsche, sei damit zu erklären, dass die Gruppenseele Angst vor Veränderungen habe. Deshalb würden dort auch höchstens Indigos inkarnieren, "ob sie aber Kristall-Kinder haben, bezweifle ich. Die trauen sich da bestimmt nicht hin." In Deutschland hingegen seien ihrer Schätzung nach etwa 60 Prozent der Kinder "Indigos" und 20 Prozent "Kristall-Kinder".
Kritiker: "Neue-Kinder"-Phänomen fördert Narzissmus
Mit diesen kruden Thesen offenbart Heyligenstädt ein elitäres Denken, das Kritiker Pöhlmann zufolge für Anhänger der Esoterik-Szene typisch ist. "Sie glauben, Zugang zu besonderen Erkenntnissen zu haben."
Darüber hinaus hält er das "Neue-Kinder"-Phänomen insofern für schwierig, als dass Kinder, die als "Indigo" oder "Kristall" wahrgenommen werden, von ihren Bezugspersonen "entsprechend hofiert und auf einen Sockel gestellt werden". Narzissmus und eine falsche Selbstwahrnehmung des Kindes könnten die Folge sein. Gefährlich werde es, wenn dieser Glaube verhindere, dass einem Kind, das beispielsweise an ADHS erkrankt sei, entsprechende fachärztliche Hilfe verwehrt bleibe. Pöhlmann findet es wichtig, dass das Jugendamt "Tageseltern, die solche Ideen vertreten, im Auge behält".
Verbund Kindertagespflege will prüfen
Der Lübecker Verbund Kindertagespflege achtet bei der Auswahl der Tageseltern einem Sprecher zufolge auf deren weltanschauliche Gesinnung. Wesentlich sei, dass sich die Betreuer den Kindern gegenüber neutral verhielten. Auf den esoterischen Hintergrund der "Kindertagespflege Indigo" hingewiesen sagte er, die zuständige Stelle werde prüfen, "ob uns da was durchgerutscht ist".
Nachtrag 30.07.2015: Nachdem NDR.de über die Kindertagespflegeeinrichtung Indigo berichtet hat, haben sich nach Angaben der Hansestadt Lübeck mehrere Behördenmitarbeiter mit der Angelegenheit befasst. Es sei ein intensives Gespräch mit Andrea Heyligenstädt geführt worden, in dem "sie sich eindeutig vom Rechtsextremismus distanziert" habe. Sie habe "beim NDR Interview wohl missverständlich formuliert". Die Mitarbeiter hätten nicht den Eindruck, als versuche sie, die Kinder durch esoterische Erziehung zu beeinflussen. Dennoch bleibe die Tagesmutter unter Beobachtung.
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