Die Historikerkommission zum Wiener Heimskandal erklärt Gewalt und Missbrauch mit NS-Traditionen, autoritärem Spießertum, fehlender Kontrolle und feigem Wegschauen.
Von Christa Zöchling
Bettnässern war verboten, abends Wasser zu trinken, und wenn das nichts nützte, wurden sie vor allen anderen Kindern verhöhnt, mussten Strafe stehen mit beschmutzter Unterhose auf dem Kopf. Kein einziges Kleidungsstück, nichts, durfte ein Heimkind sein Eigen nennen. Und es gab ausgefeilte Kollektivstrafen, um den Zusammenhalt der Kinder zu brechen. Dazu kam bei Einzelnen eine Lust an Gewalt und sadistischer Sexualmissbrauch.
Barbarische Gemeinheiten dachten sich Erzieher aus, um Zöglinge zu unterwerfen; Techniken der Folter, die Zeiten und politische Systeme überdauern. Keinem Kind wurde je geglaubt, wenn es wagte, jemanden ins Vertrauen zu ziehen.
Das Schlimmste aber: Wer mit Heimkindern zu tun hatte, wusste oder ahnte, was dort geschah, doch die "scharfen“ Methoden waren gesellschaftlich anerkannt.
"Selbst die Reformer in den siebziger Jahren, die über das Vorkommen von exzessiver Gewalt in einigen Heimen wussten, über Strafe und Gewalterziehung Symposien abhielten, sprachen die in den Heimen konkret praktizierten Formen der Gewalt nicht offen an“, sagt der Zeithistoriker Reinhard Sieder. Die Welt der Heime blieb bis weit in die siebziger Jahre hinein ein Schandfleck der Gesellschaft. Zu diesem Befund kommt die Historikerkommission der Stadt Wien, die unter Leitung von Reinhard Sieder ehemalige Zöglinge, Fürsorgerinnen, Erzieher und Heimleiter befragte, aber auch Akten der Jugendwohlfahrt einsah.
Jeder für sich - Eltern, Fürsorge, Psychologen, Ärzte, Erzieher, Heimleiter, Angestellte des Wiener Magistrats und Politiker - war ein Rädchen in dieser Maschinerie. Es wurde begutachtet und verurteilt im Geist eines Denkens, das für schwer erziehbare Kinder oder "Verwahrloste“, wie es im Amtsjargon hieß, "ungute Erbanlagen“ oder zumindest ein "asoziales Milieu“ verantwortlich machte.
Dafür genügte schon das geringste Anderssein, die Abweichung von kleinbürgerlichen Normen. Noch in einer 1987 herausgegebenen Festschrift des Jugendamts hat Sieder den bemerkenswerten Satz gefunden: Eine fehlende Sozialanpassung sei zwar noch "nicht wirklich kriminell“, jedoch "rechtsfeindlich“ und "Ausdruck einer auf Lustgewinn zielenden Tendenz“.
"Exzessive Gewalt war möglich, weil man wusste, es wird nicht kontrolliert und nicht geahndet. Ein Heim war eine totale Institution wie von Erving Goffman beschrieben. Für einen Erzieher, der sadistisch oder pädophil veranlagt war, war ein Nachtdienst sozusagen ein kleines Paradies und für die Kinder die Hölle. Es gab Gerüchte, aber niemanden, der dem ernsthaft nachging“, sagt Sieder.
Nach grober Schätzung wurden von 1945 an 100.000 Kinder durch städtische, kirchliche und private Anstalten der Gemeinde Wien geschleust. Vor allem Kinder von Alleinerzieherinnen. Bis 1989 unterstanden ledige Mütter der Vormundschaft der Stadt Wien und wurden von Amts wegen kontrolliert. In den fünfziger und sechziger Jahren häuften sich Kindesabnahmen wegen angeblicher "Erziehungsschwierigkeiten“ und "berufsbedingten Abwesenheiten“ der Mütter, berichtet Sieder. Den Frauen wurde ihre Erwerbstätigkeit angekreidet.
Dabei hatte die Wiener Reformpädagogik einst eine Avantgarde begründet, die Experten aus aller Welt anlockte. Doch schon die sozialdemokratische Strömung rund um den Arzt Julius Tandler war Ende der zwanziger Jahre von eugenischen Vorstellungen einer "freiwilligen Zuchtwahl“ erfasst. Im NS-Regime mündete dies in Massenmord aus Rassenhass.
Ehemalige NS-Ärzte und -Pädagogen wechselten nach 1945 umstandslos in die neuen Zeiten. Hans Krenek, der ehemalige NS-Direktor des Erziehungsheims "Am Spiegelgrund“, aus dem "asoziale“ Kinder zur Tötung in die Euthanasieabteilung kamen, empfahl schon 1946 in einem Erziehungsratgeber wieder die "harte Hand“. 1954 wurde Krenek, inzwischen Sozialdemokrat, mit der Leitung der Wiener Jugendfürsorgeanstalten betraut.
Ehemalige Zöglinge aus dem Erziehungsheim am Wilhelminenberg erinnern sich an die unheimliche Drohung: "Wenn du nicht spurst, kommst du auf den Spiegelgrund.“ Einige Erzieherinnen vom NS-Spiegelgrund waren nach dem Krieg vermutlich am Wilhelminenberg gelandet.
Auch NS-belastete Fürsorgerinnen waren aus Personalmangel 1946/47 wieder in Dienst gestellt worden. In den Berichten finden sich immer wieder Schlüsselbegriffe wie "Verwahrlosung“, "Arbeitsscheu“ und "Asozialität“. Auch psychologische Gutachten bedienten sich ungeniert der Erbtheorie und der Sprache des so genannten Dritten Reichs.
Das Kinderheim Wimmersdorf wurde bis 1982 von ehemaligen Nazis geführt. ORF- und profil-Berichte über Misshandlungen (Auspeitschen mit einer Hundeleine, Schläge aufs Glied, um den Buben die "Erregung“ auszutreiben, Strafappell mit erhobenen Händen) hatten zwar die Schließung des Hauses, doch keinerlei Konsequenz im Jugendamt zur Folge.
Berichte über Vorfälle in einem städtischen Bubenheim nähren heute den Verdacht, dass ein Erzieher seine Praktiken in einer NS-Sondereinheit gelernt haben könnte. Der gefürchtete Mann pflegte in schwarzen Stiefeln mit Reitgerte aufzutreten, bestrafte seine Zöglinge beim Duschen für angebliches Onanieren mit Schlägen auf den Penis und trieb die Kinder im Park vor sich her und peitschte ihre nackten Waden.
In kirchlichen Heimen, die zumindest ab und zu von Sprengelfürsorgerinnen kontrolliert wurden (für die städtischen Heime hatte sich das Jugendamt diese Einmischung verbeten), führte das Tabu der Sexualität zu grotesken Verboten und grausamen Exzessen. In einem Heim durften die Buben auf Anweisung der Schwester Oberin nur in Unterhose in die Badewanne steigen, weil sie zur Onanie hätten animiert werden können. In einem Mädchenheim wurden die Kinder - aus Hygienegründen! - mit rauen Bürsten an der Scham traktiert. Ein ehemaliges Heimkind gab der Sieder-Kommission gegenüber an, sie sei im Alter von fünf Jahren während des Badens von einer Kreuzschwester mit einem Besenstiel penetriert worden.
Unselige Traditionen, Inkompetenz und mangelnde Zivilcourage ließen die Kinderqualen über Jahrzehnte fortbestehen. Noch in der siebziger Jahren war in den größten städtischen Heimen (Hohe Warte, Biedermannsdorf und Eggenburg) jeder zweite Erzieher ohne fachliche Ausbildung. Sie hatten nur einen Sechswochenkurs absolviert. Aus einer Befragung aus dieser Zeit geht hervor, dass sich die Mehrheit der Erzieher ohne jegliche Ambition in die Sicherheit einer beamteten Anstellung bei der Gemeinde Wien geflüchtet hatte.
Nicht nur liebevoller Zuwendung, Trost und Heimat, auch ihrer Bildungschancen wurden Heimkinder beraubt. Routinemäßig wurden sie in den zweiten Klassenzug der Hauptschule gesteckt. "Erzieher und Lehrerinnen stufen in ihren Berichten die kognitiven und sozialen Kapazitäten des Kindes sukzessive herab, weil dies ihren Vorurteilen entspricht und ihnen überdies erhöhten Arbeitsaufwand erspart“, analysiert Sieder.
Typisch ist der Fall eines begabten Kindes, dem überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt wurde. In den ersten beiden Lebensjahren war es in einer liebevollen Pflegefamilie aufgehoben, durch Fehlentscheidungen der Bürokratie wurde es jedoch in eine elende Heimkarriere gezwungen, die im Strafvollzug endete.
Anzeigen gegen ehemalige Erzieher wurden im vergangenen Jahr wegen Verjährung zurückgelegt. Beim Weißen Ring haben sich mehr als tausend Betroffene gemeldet. Einen Wunsch könnte man ihnen sofort erfüllen: "Tut diese depperte Tafel in dem ehemaligen Heim im Schloss Wilhelminenberg endlich weg! Diese Tafel, die der Julius Tandler seinerzeit anbringen hat lassen: Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder. Das ist blanker Hohn für das, was in diesen Heimen abgelaufen ist!“, bittet ein ehemaliger Zögling.
21.5.2012
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