25.11.2011 · Familiengerichte entscheiden nicht immer nachvollziehbar, wenn Eltern ums Sorgerecht streiten. Protokoll eines Falls, bei dem fast alle verloren haben - sogar das Kind.
Von Katrin Hummel
Thorsten Pfahl* und Vera Ostroff lernen sich 1980 kennen. Pfahl ist Ingenieur und arbeitet in der Softwarebranche, Vera Ostroff ist Krankenschwester. Der junge Mann hat sofort das Gefühl, mit ihr durch dick und dünn gehen zu können, sie begleitet ihn sogar zu seinem geliebten Museumsbahnverein, was er im positiven Sinne ungewöhnlich für eine Frau findet. Sie heiraten und bekommen vier Kinder – eine Tochter, zwei Söhne und dann noch eine Tochter, Charlotte, die 1993 geboren wird. Nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes Frederick, der geistig behindert zur Welt kommt, spielt die Mutter wiederholt mit dem Gedanken an eine Trennung. 2001 verlässt sie Pfahl dann wirklich. Die Ehe ist ihrer Ansicht nach zerrüttet. Es kommt zu einem Streit ums Sorgerecht, der vorerst damit endet, dass das Amtsgericht dem Vater die alleinige Sorge für die noch minderjährigen Kinder Frederick und Charlotte überträgt. Doch damit hat für Pfahl die Auseinandersetzung erst begonnen. Denn das örtliche Jugendamt hatte sich dafür ausgesprochen, der Mutter das alleinige Sorgerecht zu übertragen.
Ostroff erhebt deshalb beim Oberlandesgericht Beschwerde gegen den Sorgerechtsbeschluss des Amtsgerichts. Das stellt die gemeinsame Sorge wieder her. Doch der von dem Gericht bestellte familienpsychologische Sachverständige empfiehlt abermals die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater. Daraufhin erhält Pfahl abermals das alleinige Sorgerecht für beide Kinder. Fortan versucht Vera Ostroff, diesen Beschluss rückgängig zu machen. Die Kinder sind dafür das Werkzeug. Frederick ist unter dem Einfluss der Mutter immer weniger in der Lage zu sagen, was er wirklich will. Aufgrund seiner geistigen Behinderung kann er keine komplexen Sachverhalte erfassen und ist leicht manipulierbar. Ist er bei der Mutter, sagt er, er wolle nicht zum Vater. Ist er beim Vater, fühlt er sich dennoch wohl. Sowohl das Jugendamt als auch das Oberlandesgericht stellen fest: „Je nachdem wo sich Frederick aufhält, zeigt er sich loyal.“ Ein Umstand, der sich als tragisch erweisen wird.
Der Tochter wäscht sie den Mund mit Seife aus
Frau Ostroff, die sich der F.A.Z. gegenüber trotz mehrfacher Anfrage nicht zu dem Fall äußern möchte, nutzt ihre Umgangstermine gründlich. Sie diktiert Frederick einen Brief, in dem er sich gegen den Vater wendet. Als die zehnjährige Charlotte ihr sagt, sie wolle beim Vater leben, wäscht sie ihr den Mund mit Seife aus, wie ein psychologischer Sachverständiger in seinem Familiengutachten festhält. Dennoch ändert das Mädchen seine Meinung nicht. Anders ihr sechzehnjähriger Bruder Frederick. Er leidet so an seinem Dilemma, dass er sich nach einem Besuch bei seiner Mutter bei Minusgraden auf die Straße wirft und dort vierzig Minuten lang liegen bleibt. Seinem Schulbusfahrer erzählt er, die Mutter habe ihn aufgefordert zu sagen, dass sein Vater ihn schlage.
Nach einem Besuch bei der Mutter will Frederick schließlich nicht zum Vater zurück. Als er am nächsten Tag von dem Busfahrer dennoch zum Vater zurückgebracht wird, bricht er zusammen und muss in eine psychiatrische Klinik gebracht werden. Dort erklärt er, die Mutter habe ihn gezwungen, einen Brief ans Jugendamt zu schreiben, in dem er behaupten solle, er habe Angst vor dem Vater. Den Brief gibt es wirklich, er wird dem Gericht später vorgelegt. Doch nichts geschieht, obwohl Pfahl das Jugendamt – mit dem er immer noch im Clinch liegt – abermals um Hilfe bittet. Doch das Amt teilt ihm nur mit, es verbitte sich, „Arbeitsaufträge“ von ihm entgegenzunehmen.
Der Sohn kommt nicht zum Vater zurück, sondern ins Heim
Nach einem Besuchswochenende bringt Ostroff Frederick schließlich nicht zum Vater zurück. Auch in die Schule schickt sie ihn nicht. Stattdessen geht sie mit ihm zum Jugendamt, wo Frederick mit Vehemenz erklärt, dass er nicht zurück zum Vater wolle. Denn auch der Vater manipuliere ihn inzwischen, um ihn gegen die Mutter aufzubringen. Außerdem habe er ihn eingesperrt und geschlagen. Er wolle Ruhe haben. Er wolle in Zukunft bei der Mutter leben. Die Mitarbeiter des Jugendamtes glauben ihm. Sie lassen Mutter und Sohn in Ostroffs Wohnung zurückgehen.
Doch Pfahl hat immer noch das Sorgerecht für seinen Sohn. Das Amtsgericht erlässt deshalb zwei Tage später einen Herausgabebeschluss, der es erlaubt, Frederick mit Hilfe der Polizei und eines Gerichtsvollziehers aus der mütterlichen Wohnung zu holen. Das Jugendamt ist auch dabei. Allerdings hat es bereits einen Platz in einem Heim angefragt. Frederick wird deshalb nicht, wie vom Gericht angeordnet, zu seinem Vater zurückgebracht, sondern kommt ins Heim. Begründet wird das damit, dass Frederick sehr aufgebracht ist, als er abgeholt wird, und sich weigert, zurück zum Vater zu gehen. Da die Heimunterbringung, für die es keine Zustimmung des Vaters gibt, spätestens nach 24 Stunden vom Gericht bestätigt werden muss, beantragt das Jugendamt die Zustimmung beim Oberlandesgericht – und bekommt sie, weil es nicht ausdrücklich erwähnt, dass ein Herausgabebeschluss des Amtsgerichts an den Vater vorgelegen hatte.
Nie wieder wird er zum Vater zurückkehren
Als das Amtsgericht davon erfährt, ermahnt es das Jugendamt und auch Frau Ostroff, sich künftig an richterliche Entscheidungen zu halten. Doch das ist auch schon alles. Frederick bleibt im Heim – gegen den Willen Pfahls, der immer noch das alleinige Sorgerecht hat. Doch seit diesem Tag steht fest: Frederick wird nie wieder zum Vater zurückkehren.
Denn sechs Wochen später ändert das Amtsgericht plötzlich seine Meinung. Es entzieht Pfahl das Sorgerecht für Frederick und überträgt es auf Ostroff. In der Begründung heißt es, Frederick habe in einer Anhörung vor Gericht gesagt, er habe Angst vor dem Vater. Es sei zwar davon auszugehen, dass Ostroff Frederick zu dieser Aussage gedrängt habe, denn Frederick habe nach der Anhörung ausgerufen: „Mama, ich habe alles richtig gesagt!“ Doch das ändere nichts daran, dass er nun bei der Mutter besser aufgehoben sei. Und nun kommt es: Der Vater habe nämlich den richterlichen Herausgabebeschluss vollstrecken und Frederick von der Polizei abholen lassen, als die Mutter sich geweigert habe, ihn nach dem Umgangswochenende zum Vater zurück zu lassen. Damit habe Pfahl seinen Sohn sehr erschreckt. Gegen die Erziehungsfähigkeit der Mutter bestünden zwar „nicht unerhebliche Bedenken“. Sie habe „eine bedenkliche Einstellung gegenüber Recht und Gesetz“ und habe rechtskräftige Entscheidungen des Oberlandesgerichts „schlichtweg ignoriert“. Deswegen sei zu vermuten, dass sie den Sohn auch nach künftigen Umgangskontakten wieder nicht zum Vater zurücklassen werde. Frederick müsse dann abermals von der Polizei zu Pfahl gebracht werden – und das würde ihn zu sehr belasten. Da sei es doch besser, wenn er nicht mehr beim Vater, sondern gleich bei der Mutter lebe.
Eine Manipulation durch die Mutter ist wahrscheinlich
Also kommt Frederick wieder zur Mutter. Die fordert Pfahl nun auf, er solle einen sogenannten „begleiteten Umgang“ beantragen. Der muss zwar eigentlich von einem Gericht angeordnet werden, aber Pfahl gehorcht trotzdem, denn er will seinen Sohn ja wiedersehen. Gleichzeitig fordert er aber das Gericht auf, seine Entscheidung im Rahmen einer einstweiligen Anordnung rückgängig zu machen – und unterliegt. Frederick habe Angst vor dem Vater und habe gesagt, er wolle bei der Mutter bleiben. Ob dies wirklich der Wille und die Meinung Fredericks ist, wird nicht geprüft, obwohl der Richter abermals darauf hinweist, dass eine Manipulation Fredericks durch die Mutter wahrscheinlich sei. Pfahl erhebt Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht.
Unterdessen weist das Jugendamt den Umgangspfleger im Rahmen eines „Reflexionsgespräches“ an, keine weiteren Treffen zwischen Pfahl und dem inzwischen siebzehnjährigen Frederick zu organisieren. Wenn Frederick seinen Vater sehen wolle, solle er dies selbst vereinbaren. Nun sieht Pfahl seinen Sohn, der immer noch bei Ostroff lebt, gar nicht mehr. Daraufhin beantragt er, zumindest das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf ihn zurück zu übertragen. Das Amtsgericht reagiert nach drei Monate: Es teilt Pfahl mit, es habe keinen Sinn mehr, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf ihn zu übertragen, da Frederick in elf Tagen volljährig werde. Dann könne er ohnehin selbst bestimmen, wo er leben wolle.
Ist der Sachverständige befangen?
Pfahl beantragt daraufhin beim Vormundschaftsgericht, gesetzlicher Betreuer seines behinderten Sohnes zu werden. Wie vorgeschrieben wird ein psychiatrischer Sachverständiger bestellt, der abermals feststellt, Frederick sei sehr leicht zu beeinflussen. Dennoch fragt er Frederick im Beisein der Mutter und in Abwesenheit des Vaters, wer sein gesetzlicher Betreuer werden soll. Erwartungsgemäß sagt Frederick, die Mutter solle seine Betreuerin werden. Diesem Wunsch folgt das Gericht. Pfahl erfährt an diesem Tag zufällig, dass der psychiatrische Sachverständige Mitarbeiter des Gesundheitsamtes ist – einer Behörde, die den gleichen Vorgesetzten hat wie das Jugendamt, mit dem er immer noch und immer wieder im Streit liegt. Daraufhin lehnt Pfahl den Sachverständigen wegen Befangenheit ab. Doch das Gericht weist auch das zurück.
Kurz darauf wird Frederick volljährig. Ein Besuchsrecht wie bei Minderjährigen muss vom Vormundschaftsgericht nun nicht mehr angeordnet werden. Der Sohn besucht seinen Vater fortan jedoch aus freien Stücken, geht allerdings nicht mehr zur Schule und verwahrlost, obgleich er immer noch bei der Mutter wohnt, zusehends. Wie ein Obdachloser läuft er durch die Straßen, er führt Gegenstände in Beuteln mit sich und wirkt ungepflegt. Das Gericht entzieht der Mutter deshalb ihren Status als gesetzliche Betreuerin, macht aber nun nicht etwa Pfahl dazu, sondern einen hauptberuflich tätigen Betreuer. Es folgt damit den Ausführungen einer Verfahrenspflegerin. Diese Frau hat Pfahl zwar nie gesehen oder mit ihm gesprochen. Dennoch glaubt sie, genau zu wissen, dass er ungeeignet für die Betreuung ist. Die Begründung: Weil er sich „in die ihm aus seiner Sicht widerfahrene Ungerechtigkeit“ regelrecht hineinsteigere und bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen sei, um sich gegen den Entzug des Sorgerechts zu wehren.
Mangels Alternativen abermals ins Heim
Kurz darauf erzählt Frederick dem Vater und der ehemaligen Kinderfrau und Haushälterin der Familie bei einem Besuch, die Mutter wolle ihn in ein Heim stecken. Er selbst wolle das auf keinen Fall. Er wolle unbedingt wieder beim Vater wohnen. Dann zieht seine Mutter um, 200 Kilometer weit weg. Der Betreuer bringt Frederick „mangels Alternativen“ tatsächlich in einem Heim unter. Pfahl wird darüber nicht informiert. Erst durch den Hinweis eines Nachbarn von Ostroff erfährt er, was die Mutter getan hat. In mühseliger Kleinarbeit findet er heraus, wo Frederick sich aufhält, und besucht ihn dort gemeinsam mit seiner Tochter Charlotte, für die er immer noch das Sorgerecht hat.
Auf mehreren Fotos sind die drei glücklich vereint zu sehen. Dennoch wird dies vorerst das einzige Treffen bleiben. Denn als Charlotte, die ehemalige Kinderfrau der Familie und Pfahl Frederick zwei Monate später anlässlich seines zwanzigsten Geburtstags abermals besuchen wollen, werden sie von einem Mitarbeiter des Heims weggeschickt. Es sei schon Besuch da. Nicht einmal das Geschenk können sie ihm geben. Der Betreuer aber wird auch später jedes Gespräch mit dem Vater verweigern.
Wie eine heiße Kartoffel
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung erstellt ein Gutachten für Fredericks Krankenkasse. Es ergibt, dass Frederick keine Pflegestufe hat und gut zu Hause leben könnte, wenn sich dort jemand um ihn kümmern würde. Es gebe aber niemanden, der dazu bereit sei. Der Frau seines ehemaligen Schulbusfahrers, zu dem Frederick immer noch Kontakt hat, erklärt Frederick am Telefon, die Mutter habe ihn „wie eine heiße Kartoffel fallen lassen“. Und er fügt hinzu: „Ich bin immer noch im Gefängnis.“
Niemand kommt auf die Idee, dass Frederick beim Vater wohnen könnte. Seinen Vater ruft er nach wie vor alle zwei bis drei Tage an. Pfahl beantragt bei der Telekom eine „Feststellung ankommender Telefonverbindungen“, um Fredericks Anrufe bei ihm zu beweisen, und legt sie dem Landgericht vor. Er sammelt mehr als achtzig Unterschriften und zahlreiche eidesstattliche Versicherungen von Menschen, die Frederick und ihn gemeinsam erlebt haben und wissen, dass er niemals Angst vor ihm hatte – im Gegenteil.
Das Jugendamt ist sich keiner Schuld bewusst
Doch auch dies führt nicht dazu, dass Frederick bei ihm leben darf. Denn Pfahl hatte das Sorgerecht für seinen Sohn nicht mehr, als die Betreuung eingerichtet wurde. Nach Auffassung des Landgerichts muss man außerdem Fredericks vor Gericht geäußerte Weigerung, beim Vater leben zu wollen, ernst nehmen, selbst wenn sie durch Manipulation der Mutter zustande gekommen ist. Diese Manipulation könne nämlich nicht dem Gericht angelastet werden, sondern die Ursache dafür liege in der Beziehung zwischen Vater und Mutter. Der Loyalitätskonflikt, in dem Frederick sich deshalb befinde, könne „nicht durch irgendwelche richterlichen Entscheidungen gelöst werden“. Auch das Jugendamt treffe keine Schuld: „Es besteht auch seitens des Jugendamts keine Verantwortung dafür, alles 100%ig richtig und optimal zu gewährleisten, was ein Jugendlicher grundsätzlich für eine optimale Entwicklung braucht. Die Möglichkeiten des Jugendamts sind hier durchaus begrenzt.“ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das anders: Wenn ein Kind einem Elternteil entfremdet wird, ist nach seiner nicht ganz abwegigen Ansicht von behördlicher Seite alles zu unternehmen, um dies rückgängig zu machen.
Pfahl sieht seinen Sohn seit jenem vergeblichen Besuch an seinem zwanzigsten Geburtstag – vier Jahre ist das inzwischen her – nur noch sehr selten, denn das Heim hat ihm ein Haus- und Grundstücksverbot erteilt. Die Begründung dafür ist, Frederick habe kein Interesse am Kontakt zum Vater. So äußert sich auch Frederick inzwischen wieder. Denn er lebt seit mehr als einem Jahr im Heim und handelt getreu nach seiner Maxime, sich immer dem gegenüber loyal zu verhalten, bei dem er sich aufhält. Weil das aber in diesem Fall bedeutet, dass der Sohn seinen Vater nicht mehr sieht und der Vater den Sohn nicht, hat sich der
Bundestagsabgeordnete aus Pfahls Wahlkreis in den Fall eingeschaltet. Nach dem Studium aller Akten war und ist er „menschlich tief berührt“ und wollte unter seiner Vermittlung alle Seiten an einem Tisch zusammenbringen, um wenigstens zu erreichen, dass Pfahl seinen Sohn wieder besuchen darf. Doch das Heim weigerte sich. Frederick habe einen Betreuer, der für ihn zuständig sei. Da wolle man sich nicht einmischen. Der Abgeordnete sagt: „Man möchte mit der Faust dazwischenschlagen angesichts des schreienden Unrechts, das hier passiert!“
Pfahl hat sich auch an Familienministerin Schröder gewendet.
Im Februar ließ sie ihm mitteilen, die Geschichte seines Sohnes sei „tragisch“, aber das Ministerium „sei nicht befugt, auf die Tätigkeit der Jugendämter Einfluss zu nehmen oder Gerichte zu überprüfen“.
Doch inzwischen interessiert sich auch der Petitionsausschuss des Europaparlaments für das Thema. Dort ist man der Auffassung, der deutsche Staat habe in einigen Sorgerechtsfällen, unter ihnen der Fall Pfahl, möglicherweise gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die UN-Kinderrechtskonvention und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen.
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