Im  Heim war Nicole Groppler Nummer 165. Eingesperrt wegen der „Gefahr  sozialer Verwahrlosung“. Ihre Mutter kämpfte um ihre Freiheit. 
Heute  kämpft Nicole um Anerkennung.
Viel mehr als ein Glühbirne gab es nicht im Bunker. 
Und dann dieser Geruch: feucht, muffig.  		Bild:  			ron101 / photocase.com
BERLIN taz | Einmal ist sie sieben Tage  und sieben Nächte hintereinander im „Bunker“ eingesperrt. So nennen die  Mädchen und Jungen im Spezialkinderheim „Maxim Gorki“ im sächsischen  Weißwasser die Arrestzelle.  
 Fensterloser Kellerverschlag, Betonboden,  Glühbirne, Eimer zum Pinkeln. Nicole Groppler erinnert sich, wie es im  Bunker gerochen hat – „feucht, kalt, muffig“. Sie schläft auf dem kahlen  Boden, ohne Matratze, ohne Decke. Am Tag muss das Mädchen auf dem  festgeschraubten Hocker sitzen, durch den Spion wird sie kontrolliert.          
        Nicole Groppler war 13 Jahre alt, als sie  im September 1984 bei „Gorkis“ eingeliefert wurde, wegen „Gefahr der  sozialen Verwahrlosung“. Heute ist sie vierzig und eine wütende Frau.  „An alle möglichen Opfer des DDR-Regimes wurde nach dem Mauerfall  gedacht, nur wir wurden vergessen“, sagt sie.          
        „Wir“ – das sind jene Kinder und  Jugendlichen, die in der DDR in Spezialheime für Schwererziehbare oder  in Jugendwerkhöfe eingewiesen wurden. Manche kamen aus schwierigen  Verhältnissen, andere waren kriminell geworden. Und wiederum andere  füllten schlicht nicht das Bild aus, das die DDR eine „allseitig  gebildete sozialistische Persönlichkeit“ nannte.         
        Nicole Groppler verbrachte ein Jahr  in Weißwasser. Heute erinnert in der Werner-Seelenbinder-Straße nichts  mehr an das „Gorki“. Der Plattenbau wurde vor ein paar Jahren  abgerissen. 120.000 Kinder und Jugendliche sollen in der DDR in den  Spezialheimen und Jugendwerkhöfen gewesen sein. Das hat der Politologe  Christian Sachse herausgefunden, der bis 1990 Pfarrer in Torgau war.           
        Die sächsische Stadt ist bekannt für  einen der grausamsten Jugendwerkhöfe. Es gab aber auch „normale“ Heime,  unter anderem für Waisen, in denen die Kinder nicht geprügelt und  gedemütigt wurden. Insgesamt sollen bis zu 600.000 Kinder in Heimen  gelebt haben.      
        Nicole Groppler ist klein, in ihrem  streng gebunden Zopf leuchten blonde Strähnchen. Sie will nur mit ihrem  Mädchennamen in der Zeitung stehen. Ihre Familie will sie von ihrer  Vergangenheit fernhalten. Sie will, dass ihr jetziges Leben, mit Mann,  zwei Kindern und einem Job, nicht durch die Erinnerungen gestört wird.  Doch das geht nicht, und das weiß sie auch.         
        „In den Bunker kam ich, weil ich  versucht habe abzuhauen“, erinnert sie sich. „Nach einem halben Jahr  habe ich es nicht mehr ausgehalten in dem Heim, mit den prügelnden  Erziehern und mit manchen Kindern, die mit der Zeit auch brutal wurden.  Ich wollte immer nur weg.“ 
Schläge und Angstzustände
         Bei ihrer Ankunft in Weißwasser hat man ihr den Schädel  kahlrasiert, sie musste ihre Sachen abgeben und bekam eine Nummer: 165.  Sie wurde gynäkologisch zwangsuntersucht. „Ich hatte keine Ahnung, was  da mit mir geschieht.“ Heute leidet sie an einer chronischen Bronchitis,  an Albträumen, Angstzuständen und Rückenschmerzen. Sie könnte auf  Kommando in kürzester Zeit Essen runterschlingen.         
        Die Tage im Heim verliefen im  gleichen Rhythmus: Morgens mussten die Kinder ihre Betten faltenfrei  herrichten, wenn nicht, setzte es Schläge. Jeden Tag mussten die Mädchen  und Jungen Flure und Zimmer sauber machen. „Einmal musste ich das Klo  mit meiner Zahnbürste putzen. Und abends damit meine Zähne“, sagt Nicole  Groppler.         
        Das Zimmer, in denen sie mit fünf  anderen Kindern schlief, wurde häufig abgeschlossen. Das Grundstück  durften sie nicht verlassen, es gab keine Spiele, nur ein wenig  Bastelzeug und ein paar Bücher. Manchmal mussten die Kinder aufs Feld,  zur Zuckerrübennachernte, offiziell hieß das „Arbeitserziehung“. Einmal  in der Woche durften sie fernsehen, tanzte jemand aus der Reihe, wurden  alle bestraft: Fernsehverbot, Zusatzsport und Sperre der eh seltenen,  kurzen Heimatbesuche.         
        Nicole Groppler trommelt mit den  Fingern auf den Leitz-Ordner, der vor ihr auf dem Küchentisch liegt, ihr  Blick fliegt aus dem Fenster vorbei an ein paar Fotos ihrer Kinder  direkt ins Grün des Vorgartens im Berliner Speckgürtel, wo sie wohnt. In  dem Ordner steckt ihr Leben in Weißwasser: Briefe, Amtsmitteilungen,  handschriftliche Vermerke. Es ist nicht viel, aber es reicht, um einen  Eindruck zu bekommen von der Willkür, die Nicole Groppler und ihre  Mutter erfahren haben. 
Die Akte der guten Schülerin
         Sommer 1984 – der August ist kalt, an der Ostsee fliegen die  Zelte weg, im Elbsandsteingebirge regnet es. Nicole verbringt ihre  Ferien zuhause in Berlin, sie und ihre Mutter wohnen in Prenzlauer Berg.  Auf dem Alexanderplatz lernt das Mädchen ein paar Punks kennen, mit  denen sie dreizehn Tage durch die Gegend zieht. Zwei, drei Nächte kommt  sie nicht nach Hause. Die Mutter macht sich große Sorgen, hat das  Gefühl, die Tochter entgleitet ihr. Seit der Scheidung von Nicoles Vater  ist alles so schwierig.         
        Die Frau geht zum Jugendamt, sie will  Hilfe, einen Rat. Dort führt man sie in ein Zimmer und sagt ihr: Wir  müssen in der Schule nachfragen. Im Nebenraum wird eine Akte auf Nicoles  Namen angelegt. Darin steht wortwörtlich: „Nicole ist mit ihren 12  Jahren in einer negativen Gruppierung älterer Jugendlicher vom Alextreff  integriert. Sie gibt sich als Fünfzehnjährige aus und hat ihr  persönliches Aussehen der Gruppe angenommen.“         
        Die Mutter weiß davon nichts, sie  ahnt nicht, dass ihr Gang zum Jugendamt schwere Folgen haben wird. Zwei  Wochen später, am 19. September, wird sie aufs Jugendamt bestellt. Der  Grund: „Beschluss zur Sicherung der weiteren Erziehung und Entwicklung  des Kindes Nicole Groppler“. So steht es in der Akte. Zu dieser Zeit ist  Nicole längst wieder zu Hause, die Schule hat begonnen und Nicole ist  eine gute Schülerin. Aber das hat plötzlich keine Bedeutung mehr.           
        Kurz darauf holen zwei Mitarbeiter  des Amtes das Mädchen von der Schule ab und bringen es zunächst in ein  Übergangsheim in Berlin, ein paar Tage später geht es nach Weißwasser.  Noch am selben Abend stehen diese Mitarbeiter auch vor der Tür der  Mutter. Sie haben sie gezwungen, „die Papiere zu unterschreiben und mich  freizugeben“, sagt Nicole Groppler. 
Ein Jahr, ein Kampf
         Die Mutter ist hilflos. Sie will ihr Kind zurück. Am nächsten Tag  nimmt sie einen Kampf auf, der ein Jahr dauern soll, ein Kampf gegen die  Behörden und gegen das Heim – und ein Kampf gegen sich selbst. Nicole  Groppler sagt, auch heute noch mache sich ihre Mutter Vorwürfe. Mit der  Presse will sie nicht reden. Die Tochter versteht das.         
        Hätte die Mutter wissen müssen, dass  ihr Gang zum Jugendamt gefährlich sein kann? Damals kursierten  zahlreiche Gerüchte und Geschichten über Mütter und Väter, die einen  Ausreiseantrag gestellt oder sich auf andere Weise gegen den Staat  gestellt hatten und denen die Kinder weggenommen wurden.          
        Auch Nicoles Mutter hatte einen  Ausreiseantrag gestellt, 1976 schon, er war abgelehnt worden. Seitdem  war die Familie im Visier der Behörden, für Nicole wurde eine Stasiakte  angelegt, sie war damals fünf Jahre alt. 
„Trotz guter Leistungen …“
         Im „Maxim Gorki“ in Weißwasser dreht Nicole fast durch, versucht  dennoch möglichst „unauffällig“ zu sein und ihre Chance auf eine baldige  Entlassung zu steigern. Nicole habe „ein gepflegtes Äußeres“, sie  bemühe sich „um Ordnung und Sauberkeit im gesamten Gruppenbereich“ und  komme „allen Anforderungen nach“, heißt es in den Berichten. In der  Schule schreibt sie Zweien, für die anderen ist sie eine Streberin.          
        Die Mutter telefoniert mit der  Heimleitung, mit dem Jugendamt, mit dem Ministerium für Volksbildung.  Man macht ihr Hoffnung, dass sie ihre Tochter bald abholen kann – und  führt sie an der Nase herum. Am 24. September protokolliert „OL  Dipl.-Päd. Spielmann“: „Trotz guter schulischer Leistungen gelingt es  ihr im Verhaltensbereich nicht kontinuierlich, den Anforderungen gerecht  zu werden.“ Nicole bleibt in Weißwasser.         
        Sie wird krank und muss operiert  werden, die Mutter findet einen Arzt, der bescheinigt, dass das Mädchen  dringend rausmuss aus dem Heim. Dann geht alles sehr schnell: Im Oktober  1985 darf die Mutter ihre Tochter abholen, im Januar 1986 heiratet sie  einen Westdeutschen, stellt erneut einen Ausreiseantrag und schon einen  Monat später siedeln Mutter und Tochter nach West-Berlin über.         
        Ich habe Glück gehabt, sagt Nicole  Groppler. „Jeder Tag länger im Heim hätte Gefahr bedeutet. Die Heime  waren dazu da, Kinder zu brechen.“ Viele ehemalige Heimkinder leiden an  schweren Depressionen, sie sind unfähig zu arbeiten oder haben nie eine  Ausbildung absolviert. Sie sind „beziehungsunfähig“ und haben jegliches  Vertrauen verloren. Dafür wollen sie eine Entschädigung. Nicole Groppler  will ihnen helfen, diese zu bekommen. Ihr gehe es einigermaßen gut,  sagt sie. Gerade gründet sie einen Verein, der politische Lobbyarbeit betreiben soll. 
Wunsch nach politischer Anerkennung
         Nicole Groppler fordert, dass das, was Heimkinder erlebt haben,  politisch anerkannt wird. Sie will, dass man ihnen zuhört, auch wenn die  Kameras und Mikros nach den Pressekonferenzen schon ausgeschaltet sind.  Und sie hofft auf ein wenig Geld für die erlittenen Qualen.         
        Anerkennung und Geld soll es bald  geben. Ab Juli können ehemalige Heimkinder bei einem 40 Millionen Euro  großen Fonds Anträge stellen, für Psychotherapien, Rollatoren,  Spezialmatratzen. Manuela Schwesig, SPD-Sozialministerin in  Mecklenburg-Vorpommern, sagt stellvertretend für alle Sozialminister der  Ostländer: „Wir übernehmen die politische Verantwortung.“          
        Das alles reicht Nicole Groppler  nicht. Auch die Gesetze sollen geändert werden, fordert sie. Zum  Beispiel das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG), das  politische Opfer entlastet, die in der DDR zu Unrecht verurteilt wurden.  Es solle auch für ehemalige Heimkinder gelten. Dann könnten sie höhere  Renten erwarten, sagt Nicole Groppler, ohne besondere Belege. 
Denn häufig haben die Betroffenen keine  Unterlagen, keine Akten, keine Fotos, nichts. Vieles ist geschreddert.  Die Heimkinder haben nur ihre traumatisierenden Erinnerungen. Nicole  Groppler sagt: „Man muss ihnen einfach glauben.“
Damit die Leute mal wissen was da lief....
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