2012/08/22

Heimkinder - "Die Kinder wurden zweifellos bestohlen"

Interview | Verena Langegger, 22. August 2012, 05:30
  • Artikelbild
    foto: apa/robert parigger
    Seit 1992 ist St. Martin eine stationäre Jugendwohlfahrtseinrichtung des Landes Tirol.
  • Artikelbild
    foto: apa/robert parigger
    Unter Joseph II. wurde das Kloster Schwaz säkularisiert, in den Sechzigerjahren war das Heim berüchtigt für seine Erziehungmaßnahmen.
  • Artikelbild
    foto: uwe schwinghammer
    "Für mich wurden die Kinder zweifellos bestohlen. Das muss wissenschaftlich aufgearbeitet werden."

Der Zeithistoriker Horst Schreiber hat Tiroler Heimkinder der 60er Jahre interviewt. Zwangsarbeit sei ein Erziehungsmittel gewesen

 

STANDARD: Seit 2010 wird versucht, Missbrauch und Ausbeutung von Kindern in Heimen aufzuarbeiten. Wie kommt es, dass jetzt wieder neue Taskforces und Kommissionen eingerichtet werden. Nach Missbrauch wird nun Zwangsarbeit untersucht. Ist das Thema wirklich plötzlich aufgetaucht? 

Horst Schreiber: Vieles wurde ganz einfach nicht zur Kenntnis genommen. Die Vorwürfe sind ja schon zwei Jahre alt. Aber oft kommt wohl auf mediales Erscheinen erst die politische Erkenntnis. 

STANDARD: Obwohl Archive und Quellen aus Heimen schon zweieinhalb Jahre untersucht werden, gibt es kaum wissenschaftlichen Output. Woran liegt das? 

Schreiber: Die Thematik der Heimkinder hat politisch bisher kaum jemanden interessiert. Erst jetzt wird Geld für Forschungsarbeit freigegeben. Für mein Buch "Im Namen der Ordnung" habe ich bereits 2010 ohne Auftrag sehr viele Gespräche mit Betroffenen geführt. Würden Politiker sich mehr mit der Thematik befassen, dann wären sie medial nicht immer die Getriebenen. 

STANDARD: Heimkinder wurden gezwungen zu arbeiten. Entsprach Kinderarbeit in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts dem Zeitgeist? 

Schreiber: Die Zwangsarbeit war Teil der Zwangserziehung. Deshalb wurden die Heimkinder zur Zwangsarbeit geschickt. Sie wurde oft bei Buben eingesetzt, die als arbeitsscheu galten. Mädchen wurden als Dienstboten angesehen. Innerhalb der Heime galt Arbeit als Erziehungsstil oder als Strafmittel. Oft waren es auch durchwegs sinnlose Arbeiten. 

STANDARD: Die Zöglinge bekamen kaum bis gar kein Geld. Das Gehalt wurde, wie es vom Land Oberösterreich auch zugegeben wurde, für anfallende Heimkosten verwendet. War das damals legal? 

Schreiber: Man wollte sich damals in den österreichischen Heimen ganz viel Geld ersparen. Lehrlingen wurde ein Teil des Gehalts abgezogen, das war legal. In Oberösterreich wurde dies dafür eingesetzt, die Kosten ihres Aufenthaltes zu decken. In katholischen Heimen mussten Zöglinge in der Landwirtschaft arbeiten. 

STANDARD: Beschuldigte Firmen wie Swarovski, Darbo oder Eglo-Leuchten sagten sofort nach den Vorwürfen von ehemaligen Heimkindern, sie hätten keinen Lohn bekommen, an, sie hätten durchaus für die Arbeiten bezahlt. 

Schreiber: Ich musste schon fast lachen, bei der Betroffenheit der Firmenchefs. Man muss ganz klar sagen. Der Lohn wurde bezahlt. Aber diese Firmen haben sich diese Burschen und Mädchen aus den Heimen ganz bewusst ausgesucht, weil sie keine Sozialversicherung zahlen wollten. Und diese Ausbeutung von Schwachen hat auch nie aufgehört. Menschen mit Behinderung etwa werden auch heute noch auf Taschengeld- Basis bezahlt. Und sehr oft für Arbeiten verwendet, die sie öfter gar nicht machen wollen. 

STANDARD: Viele minderjährige Heimkinder bis zum Alter von 15 Jahren wurden, etwa in Vorarlberg, zur Erntearbeit eingesetzt. Galt das in den Sechzigern nicht als normal?
Schreiber: Damals galt Arbeit durchaus als Hauptzweck des Lebens. Das war der damals herrschende gesellschaftliche Konsens. Alle sollten arbeiten, auch die Kinder. Natürlich auch Bauernkinder. In Tirol etwa waren Schulen zu manchen Zeiten schlecht besucht, weil die Kinder mithelfen mussten. Der Unterschied ist: Ob du auf einem Hof mitarbeitest, der dir einmal gehören wird. Oder auf einem fremden Hof, auf dem du geschlagen, ausgebeutet und keine Ausbildung bekommst. Und grundsätzlich war Kinderarbeit auch damals nicht erlaubt. Vereinzelt berichteten ehemalige Heimkinder aber auch Positives. Etwa, dass es während dieser Erntearbeiten zumindest etwas Anständiges zu essen gab. 

STANDARD: Bezahlung gab es für die Kinder natürlich keine ... 

Schreiber: Wozu hätte man Minderjährige bezahlen sollen? Und für deren Aufenthalt im Heim kamen Mütter, Väter oder Jugendamt auf. Und diese Arbeit war Ausbeutung. 

STANDARD: Also blieb Geld, das für die Arbeiten bezahlt wurde, bei der jeweiligen Heimleitung hängen? 

Schreiber: Vielen Kindern wurde nur ein Teil ausbezahlt. Nicht einmal die Verpflegungssätze wurden in Nahrung investiert. Viele ehemalige Zöglinge erzählen von Hungererfahrungen. Für mich wurden die Kinder zweifellos bestohlen. Das muss nur mehr wissenschaftlich aufgearbeitet werden. 

STANDARD: Woher kam diese Form der Heimpädagogik? 

Schreiber: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren ein Großteil der Erzieher in Jugendheimen und Erziehungsanstalten Nationalsozialisten. Diese Heime entwickelten sich aus Arbeitshäusern und Korrektionsanstalten. 

STANDARD: Kinder, die nach dem Willen der Behörden nicht in der eigenen Familie bleiben durften, wurden auch oft zu Pflegeeltern gegeben. Ging es Pflegekindern besser? 

Schreiber: Nein. In bäuerlichen Gegenden wünschten die Bauern Pflegekinder. Viele dieser Kinder erzählten von brutalen Erfahrungen. Sie galten ebenfalls als billige Arbeitskräfte und waren oft sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Versichert waren sie ohnehin nie. Mit dem Bereich der Pflegekinder muss sich die Forschung ebenfalls noch stärker auseinandersetzen (Verena Langegger, DER STANDARD, 22.8.2012)

Horst Schreiber, (51) ist Historiker an der Uni Innsbruck. Er forscht zu NS-Zeit, Bildung und Erziehung. 2010 erschien "Im Namen der Ordnung". 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen