Stirbt wieder mal ein Kind - verhungert, von den Eltern getötet -, dann fragen wir uns: was machen die eigentlich im Jugendamt? 600 Ämter gibt es, doch keines ist organisiert wie das nächste. Ob ein Kind in Not zuverlässig Hilfe bekommt - Glückssache. Und Familienbetreuung, eine der sensibelsten Aufgaben des Staates, ist komplett privatisiert. Von Walter Wüllenweber
Ohne die Farbtupfer würde man es gar nicht merken. Ausgerechnet die lustigen, bunten Muster verraten: Dies ist kein fröhlicher Ort.
Rathaus Bielefeld, vierter Stock, Flur F. Die Bürotüren führen zu ganz normalen deutschen Amtsstuben. Auf der Fensterbank steht der Kaktus. Daneben röchelt die Kaffeemaschine. Das hinterlässt die üblichen Spuren: pizzagroße, braune Flecken auf blassgrünem Teppichboden. Hier könnte das Bauamt sein oder das Liegenschaftsamt. Doch oben auf dem Aktenschrank liegen sie, die leuchtend bunten Arbeitsgeräte dieser Staatsdiener: Kindersitze.
Übernommen aus ... Stern
Dies ist das Jugendamt. Wenn die Kindersitze vom Schrank geholt werden, erleben die Mitarbeiter ihre dramatischsten Augenblicke. Dann holen sie ein Kind aus seiner Familie, um es zu Pflegeeltern zu bringen oder in ein Heim. Manchmal wehren sich die Eltern. Mit Händen und Füßen. Klammern sich mit einem Arm an den Türrahmen und mit dem anderen um das Kind. Aber das ist selten. Meistens sind die Eltern einverstanden. Oft lassen sich die Kinder einfach so an die Hand nehmen und verlassen grußlos ihr altes Leben. Die Wohnungstür wird hinter ihnen geschlossen. Die Kinder folgen den Fremden die Treppe hinunter, auf den Parkplatz, zum Auto und lassen sich auf dem Kindersitz festschnallen. "Wenn keiner weint, die Eltern nicht und die Kinder nicht, das ist das Allerschlimmste", sagt Herbert Oberst, Teamleiter im Jugendamt Bielefeld.
Kinderschicksale Aus Mangel an Betreuung Spektakuläre und erschütternde Fälle von Kindstötungen - und die Verfehlungen der Ämter ls die Eltern den Notarzt holten, war Lea-Sophie nicht mehr zu helfen; sie starb im Krankenhaus. Über Monate hatte das Mädchen nicht ausreichend zu essen und zu trinken bekommen. Die Großeltern hatten das Jugendamt alarmiert - doch ohne Erfolg, die Mitarbeiter hatten sich abwimmeln lassen. Die Eltern stehen derzeit wegen Mordes vor Gericht. Ein Untersuchungsausschuss kam inzwischen zu dem Schluss, dass bei "sachgerechter Arbeit des Jugendamtes"Leas Tod hätte verhindert werden können.
Das Jugendamt soll keine Kinder wegnehmen
Genau das ist die Vorstellung vom Jugendamt: das Amt, das den Familien die Kinder wegnimmt. Doch die eigentliche Aufgabe ist das genaue Gegenteil. Sie sollen verhindern, dass es so weit kommt. Denn die Transportschäden, die der Kindersitz des Jugendamtes verursacht, sind fast immer irreparabel. Für die Seelen der Kinder. Aber auch für die Kassen der Kommunen. Ein einziger Platz in einem Heim kostet im Jahr rund 50.000 Euro, etwa so viel wie das Gehalt eines Sozialarbeiters. Ob das Jugendamt gut arbeitet, ist also nicht nur wichtig für Kinder in Not. Es entscheidet maßgeblich mit über die finanzielle Situation einer Kommune. Das erhöht den Druck.
Gleichzeitig verändert sich die Gesellschaft dramatisch. Immer mehr Eltern sind aus den unterschiedlichsten Gründen über- fordert. Seit 1991 hat sich der Anteil der Familien versechsfacht, die Hilfe vom Jugendamt benötigen. Offensichtlich spürt der Staat die Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen nicht irgendwo, sondern zuerst im Jugendamt. Im Gefüge der staatlichen Institutionen haben die Jugendämter daher eine ganz neue Bedeutung. Nie waren sie so wichtig wie heute.
Bei ihren Entscheidungen sollen die Leute vom Jugendamt wirtschaftliche Überlegungen weitgehend ausblenden. Für sie ist nur wichtig: Wie groß ist die Gefahr für das Kind? Familie oder Heim, was schadet dem Kind mehr? Manchmal sind es Entscheidungen um Leben und Tod. Alle paar Tage wird in Deutschland ein Kind getötet. Einige der Namen der Kinder und ihr Schicksal kennt fast jeder: Jessica aus Hamburg, verhungert. Lea-Sophie aus Schwerin, verhungert und verdurstet. Kevin aus Bremen, erschlagen und im Kühlschrank versteckt. Jedes getötete Kind löst eine neue Welle der Empörung aus.
Jugendämter stehen im Scheinwerferlicht
Jahrzehntelang haben die Jugendämter weitgehend im Verborgenen gearbeitet. Jetzt stehen sie im Scheinwerferlicht. "Die meisten Mitarbeiter sind hoch verunsichert. Manche haben regelrecht Angst und Panik", sagt Professor Manfred Neuffer, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg Sozialarbeit lehrt. Bei Fortbildungen in Jugendämtern lernt er die Nöte der Sozialpädagogen kennen. Wenn ein getötetes Kind gefunden wird, stehen sie im Feuer. Dann diskutiert die Öffentlichkeit: War das Jugendamt schuld? Bohren die nur in der Nase? Was tun die den ganzen Tag?
Was macht ein Jugendamt? Keine allzu komplizierte Frage. "Aber beantworten kann das niemand", sagt Mike Seckinger. Dabei müsste er es können, denn der Sozialwissenschaftler des Deutschen Jugendinstituts erforscht seit 15 Jahren die Arbeit der staatlichen Kinder- und Jugendhilfe. "Es gibt in Deutschland über 600 Jugendämter, doch keine zwei, die gleich organisiert sind." Kinder- und Jugendhilfe ist Aufgabe der Kommunen, und denen kann niemand vorschreiben, wie sie ihre Verwaltung aufbauen.
Die Selbstverwaltung hat Verfassungsrang. So sind in manchen Rathäusern die Sozialarbeiter vom Jugendamt gleichzeitig für Senioren zuständig. In anderen werden Kleinkinder vom Sozialamt betreut. Manche Bürgermeister nehmen den Schutz der Kinder sehr ernst. Viele jedoch nicht. "Es gibt in Deutschland Jugendämter, in denen die Verhältnisse schlicht katastrophal sind", sagt Seckinger. Ob ein Kind in Not schnell und zuverlässig Hilfe bekommt, das ist in Deutschland eine Frage des Glücks.
"Die Jugendhilfe ist ein System, in dem das Zufallsprinzip regiert", sagt Georg Ehrmann, Vorsitzender des Vereins "Kinderhilfe Direkt".
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