2012/08/17

Todesfall Anna - zwei Jahre danach: Von Tätern und Bauernopfern

Von Nina Magoley
Vor zwei Jahren starb die neunjährige Anna in Bad Honnef. Monatelang soll sie von ihren Pflegeeltern misshandelt worden sein. Gegen das Jugendamt waren danach schwere Vorwürfe erhoben worden, doch das Verfahren gegen den damaligen Amtsleiter ist inzwischen eingestellt.

Plädoyers im Fall Anna
Bild 1 vergrößern +Gerichtsprozess gegen die Pflegeeltern
Es ist die Geschichte einer Tragödie, die Geschichte von Unmenschlichkeit auf der einen Seite - und von menschlicher Unzulänglichkeit, vom Wegsehen, von tödlicher Bürokratie auf der anderen Seite. Im Juli 2008 war die damals siebenjährige Anna bei Pflegeeltern in Bad Honnef untergebracht worden. Ihre leibliche Mutter kämpfte damals mit einem Alkoholproblem und sah sich mit der Betreuung ihrer zwei Kinder überfordert. Fast genau zwei Jahre später war das kleine, schmächtige Mädchen tot - offenbar gewaltsam unter Wasser gedrückt durch die Hände seiner Pflegemutter. Im folgenden Gerichtsprozess gegen die Pflegeeltern sahen es die Richter als erwiesen, dass Anna mindestens ein Jahr lang gequält und schließlich zu Tode misshandelt worden war. Am 24. November 2011 sprach das Landgericht Bonn die 49-jährige Pflegemutter des Mordes, der Misshandlung und der Freiheitsberaubung mit Todesfolge für schuldig und verhängte eine lebenslängliche Haftstrafe. Ihr Ehemann wurde zu sechs Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Doch die Schuldfrage ist damit noch nicht geklärt.

Amt glaubte den Pflegeeltern


Annas Pflegeeltern Petra und Ralf W.
Bild 2 vergrößern +Die Verurteilte Petra W. und ihr Ehemann Ralf W. während des Prozesses
So hatten die Ermittlungen ergeben, dass die Pflegeeltern beim Jugendamt bereits seit längerem als problematisch galten. Auch kam heraus, dass Mitarbeiter des Jugendamts mehrfach deutliche Hinweise darauf bekommen hatten, dass das Kind in der Pflegefamilie möglicherweise in Gefahr sei. Doch anstatt selber alle Zweifel zu klären, glaubte man - so die Ermittlungen - den Beteuerungen der Pflegemutter, dass alles in Ordnung sei, dass Anna eben "ein schwieriges Kind" sei. Das Jugendamt glaubte gefälschten, angeblich von dem Kind verfassten Briefen über sein glückliches Zuhause und ärztlichen Attesten darüber, dass es sich selbst verletzen würde. Die Atteste, so stellte sich heraus, hatte eine Ärztin auf Zuruf der Pflegemutter ausgestellt, ohne das Kind persönlich untersucht zu haben.

Alarm-Anruf wurde nicht weitergeleitet


Noch an dem Tag, der der letzte in Annas Leben sein sollte, ging im Jugendamt Bad Honnef der Anruf einer besorgten Nachbarin ein, die das Kind am Tag zuvor fast nackt und vor Angst schreiend unter dem Balkon der Pflegefamilie gefunden hatte. Doch die Jugendamtsmitarbeiterin verwies die Anruferin auf das Jugendamt Königswinter, das zuständig sei, weil Annas Mutter dort und nicht in Bad Honnef lebt - und unterließ es, die Meldung selber dorthin weiterzuleiten. Auch in Königswinter rief die alarmierte Nachbarin an - ohne Erfolg. Am Abend war die neunjährige Anna tot.

Städte kündigten Konsequenzen an

Beide Städte - Bad Honnef und Königswinter - hatten nach dem Gerichtsurteil verkündet, ihre Verwaltungsstrukturen zu überprüfen und Maßnahmen zu treffen, die eine solche Tragödie in Zukunft verhindern mögen. Man müsse "ein Netzwerk" zwischen Jugendamt, anderen Trägern der Jugendhilfe und der Politik aufbauen, hatte etwa die Bad Honnefer Bürgermeisterin Wally Feiden erklärt. Der Rat der Stadt Königswinter gab ein externes Gutachten in Auftrag, in dem die Abläufe im Jugendamt "auch in Zusammenhang mit dem Tod von Anna" untersucht werden sollten.

Jugendamtsleiter nicht verantwortlich

Auf Strafanzeigen hin nahm die Staatsanwaltschaft Bonn Ermittlungen gegen die Mitarbeiterin des Jugendamts auf, die den Anruf nicht weitergeleitet hatte. Auch gegen den damaligen Leiter des Königswinterer Jugendamts, gegen einen Mitarbeiter der Diakonie und gegen eine weitere Mitarbeiterin des Jugendamts, der vorgeworfen wird, nach Annas Tod belastende Akten vernichtet zu haben, wurde ermittelt. Allein das Untersuchungsverfahren gegen sie läuft noch, die Ermittlungen gegen die anderen drei dagegen wurden inzwischen eingestellt. Die Staatsanwaltschaft habe gegen den Jugendamtsleiter keinen Tatvorwurf wegen Unterlassung gesehen, sagt Sprecherin Vanessa Weber: Er habe keine "Garantenstellung" gehabt habe, die ihn als Leiter mitverantwortlich gemacht hätte, obwohl er nicht persönlich mit dem Fall betraut war. Inzwischen leitet der ehemalige Jugendamtschef die Stabstelle Personalentwicklung, die direkt dem Bürgermeister unterstellt ist.

"Amtsleiter kann sich nicht herausreden"


Mutter an Annas Grab
Bild 3 vergrößern +Annas Mutter am Grab ihrer Tochter
Für die Anwältin von Annas Mutter, Martina Lörsch, ist die Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehbar. Sie hat am 13. Juni 2012 Beschwerde dagegen bei der Staastanwaltschaft Bonn eingelegt. "Es gibt klare rechtliche Vorgaben dazu, was ein Amtsleiter zu tun hat, wenn Kindesmisshandlung gemeldet wird", sagt sie, und beruft sich dabei auf den Paragrafen 8a im Sozialgesetzbuch VIII, der den "Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung" regelt. Darin heißt es unter anderem: "Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen." Und weiter: "Besteht eine dringende Gefahr ..., so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen." Der Amtsleiter, sagt Rechtsanwältin Lörsch, müsse "dafür Sorge tragen, dass die Vorgaben dieses Paragrafen eingehalten werden". Im Fall Anna sei sogar eine 8a-Akte angelegt worden, "da kann sich der Amtsleiter nicht herausreden." Die Anwältin vermutet, dass es im Jugendamt Königswinter "keine klaren Anweisungen dazu gab, wie mit 8a-Fällen umgegangen wird". Für den Königswinterer Bürgermeister Peter Wirtz besteht dagegen kein Zweifel daran, dass die Ermittlungen gegen den Jugendamtsleiter zu Recht eingestellt wurden. "Da schließen wir uns selbstverständlich der Meinung der Staatsanwaltschaft an", erklärt er gegenüber WDR.de.  
Ebenfalls fragwürdig findet Rechtsanwältin Martina Lörsch, dass die Veröffentlichung des Gutachtens der Stadt Königswinter, die eigentlich schon für Ende 2011 angekündigt war, vorübergehend zurückgestellt wurde, bis die letzten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Jugendamtsmitarbeiterin abgeschlossen sind. "Die Erkenntnisse aus dem Gutachten wären sehr wichtig für die noch laufenden Ermittlungen gegen die Mitarbeiterin", meint Lörsch, "diese Untersuchung hätte eigentlich sofort, als erstes stattfinden müssen".
Eigentlich sei das Gutachten "fast fertig", sagt Bürgermeister Wirtz auf Anfrage von WDR.de. Doch Gutachter - ein Pädagogikprofessor an der Universität Koblenz - habe befürchtet, als Zeuge im Ermittlungsverfahren gegen die Mitarbeiterin auftreten zu müssen, würde er seine Ergebnisse jetzt schon veröffentlichen. "Dann", vermutet Wirtz, "habe er seine Neutralität wohl in Gefahr gesehen". Dennoch würde das Gutachten im September in der Sitzung des Jugendhilfeausschusses vorgestellt, sagt Wirtz.

Bad Honnef: "Kein Fehlverhalten"

Und was tun die Jugendämter zur Aufarbeitung ihrer tödlichen Pannen? Der Jugendhilfeausschuss habe eine Arbeitsgruppe gebildet, erklärt der Bürgermeister von Königswinter, die "sämtliche Abläufe im Jugendamt gründlich überprüft". Inzwischen seien alle Bediensteten der Abteilung darin "geschult" worden, wie mit heiklen Anrufen umzugehen sei, die an der falschen Stelle eingehen. Denn man sei zu der Erkenntnis gekommen, dass im Fall Anna nicht etwa eine Überlastung des Personals, sondern ineffiziente "Abläufe" zum Versagen der Behörde geführt haben. Inzwischen sei das "komplette Personal sensibilisiert für Anrufe, die auf Kindesmisshandlung hindeuten", sagt Wirtz. Auf der Homepage der Stadt Bad Honnef, die dem Fall Anna eine Seite widmet, ist zu lesen: "Die sofort eingeleitete verwaltungsinterne Untersuchung hat bisher kein Fehlverhalten in der Vorgehensweise des Jugendamtes aufgezeigt."
Auf die leibliche Mutter der getöteten Anna wirken diese Maßnahmen in der Jugendarbeit offenbar nicht überzeugend. Als die Ermittlungen gegen drei der vier Hauptbeteiligten eingestellt wurden, habe sie beschlossen, Beschwerde einzulegen, sagt ihre Anwältin, "damit so etwas nicht noch einmal passiert". Finanzielle Unterstützung bei ihrer Klage erhält die Mutter, die inzwischen wieder als Altenpflegerin arbeitet, nach Angaben ihrer Anwältin nicht. "Da sich der Vorwurf gegenüber dem Jugendamt 'nur noch' auf Körperverletzung durch Unterlassen bezieht, nicht auf Mord, kann meine Mandantin nicht einmal als Nebenklägerin auftreten", sagt Lörsch.

Stand: 22.07.2012, 09.00 Uhr

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