Der renommierte Kinderpsychiater und Bestsellerautor über Liebeswettkämpfe, Väterrechte und lange Waldspaziergänge.
Christ & Welt: Würden Sie um das Sorgerecht für Ihre Kinder kämpfen?
Michael Winterhoff: Als Vater war ich noch nie in der Situation, als Kinderpsychiater muss ich klar sagen: nein. Ich habe oft mit Kindern zu tun, bei denen die Besuchskontakte zum anderen Elternteil eher belastend als förderlich sind. Im Kampf ums Sorgerecht zeigt sich die Unfähigkeit der Eltern, ein Kind als Kind zu sehen. Sie sehen das Kind als Partner, sie kämpfen um seine Liebe und kompensieren eigene Defizite über das Kind. Das ist oft ein unbewusster Prozess, aber ein gefährlicher. Erwachsene sollten eigentlich in der Lage sein, sich nach einer Trennung darüber zu verständigen, wie die Besuchszeiten geregelt werden. Dann müsste erst gar kein Gericht in Anspruch genommen werden.
C & W: Aber Gerichte werden in Anspruch genommen, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Winterhoff: Ja, leider. Das zeigt, dass die Erwachsenen oft die Trennung emotional nicht vollzogen haben. Sie sind verletzt und tragen ihr Leiden an das Kind heran. Man muss wissen: Bis zum 15. Lebensjahr verarbeiten Kinder Probleme schuldhaft, das heißt, sie sehen sich selbst als Ursache des Problems. Ein Erwachsener, der Kinder als Kinder sieht, teilt nicht mit dem Kind wie mit einem Partner alle Probleme, sondern überlegt zuerst, was das Kind braucht.
C & W: Braucht das Kind nicht Mutter und Vater?
Winterhoff: Das kann man nicht generell sagen. Ein Kind kann auch Ersatzväter haben, das kann ein Lehrer sein, ein Pfadfinderleiter oder wer auch immer. Wünschenswert wäre, dass ein Kind zu beiden Eltern Kontakt hat. Aber wenn die Eltern emotional nicht wirklich getrennt sind, kommen die Kinder in einen Loyalitätskonflikt. Ich hatte kürzlich einen Achtjährigen in der Praxis, der wusste bis ins Detail, dass die Unterhaltszahlungen des Vaters an die Mutter nicht stimmen. Dieses Wissen und die Abwertung des Vaters überfordern Kinder, aber vielen getrennten Paaren ist das nicht klar.
Schwierig wird es auch, wenn ein Elternteil zwar das Sorgerecht hat, aber seinem Erziehungsauftrag nicht nachkommt. Wenn das Kind zum Beispiel bei einem Elternteil sehr spät ins Bett gehen oder Filme gucken darf, die der andere verbietet, wird es völlig verwirrt. Kinder brauchen zuallererst ein stabiles Umfeld und verlässliche Maßstäbe. Zu oft erlebe ich, dass getrennte Paare regelrecht um die Liebe ihrer Kinder wetteifern.
C & W: Es gilt doch als gleichstellungsbewusste Errungenschaft, wenn das Kind vier Tage die Woche bei der Mutter und drei Tage beim Vater ist oder umgekehrt.
Winterhoff: Ich halte das für eine Katastrophe. Das ist ein unbewusster emotionaler Missbrauch des Kindes. Ich habe mit solchen Fällen zu tun und rate den Eltern, das umgehend zu ändern. Ich halte 14-tägliche Besuchskontakte für sinnvoll, aber es ist eine Illusion, dass die Erziehung paritätisch geleistet werden kann. Das Kind sollte bei dem Elternteil die meiste Zeit verbringen, der vor der Trennung den größten Teil der Erziehungsarbeit übernommen hat. Für die kindliche Psyche ist es wichtig, dass Abläufe gleich sind, dass Reaktionen gleich sind. Generell ist es wichtig, Alltägliches einzuüben. Wenn das Kind dauernd die Umgebung wechselt, wird es ständig rausgerissen. Noch schwieriger ist es, wenn Eltern neue Partner haben. Kinder sind nicht so flexibel, wie Erwachsene sie gern hätten.
C & W: Urteilen Sie nicht deshalb so skeptisch, weil Sie in Ihrem Beruf
vor allem Kinder sehen, die unter solchen Sorgerechtsmodellen leiden?
Winterhoff: Nein, es ist keineswegs so, dass ich nur von einer verschwindend geringen Minderheit spreche. Aus dieser Gesellschaft gehen immer mehr psychisch auffällige Kinder hervor. Diese Gesellschaft ist dabei, die Kindheit abzuschaffen. Kinder werden mitgenommen auf Partys oder in die Oper, und sie sollen bitte schön jede Trennungsregelung locker mitmachen. Was ein Kind braucht, um emotional zu reifen, bleibt auf der Strecke. Wenn ein Kind als Partner wahrgenommen wird, nimmt man ihm jede Orientierung.
C & W: Das Kind soll also lieber den Trennungsschmerz von dem einen Elternteil aushalten, wenn ihm der andere eine verlässliche Orientierung gibt?
Winterhoff: Kinder können Katastrophen überleben, ohne traumatisiert zu werden. Ob sie seelische Schäden davontragen, hängt von den Bezugspersonen ab, die es auffangen. Wenn die Eltern eine Trennung innerlich vollzogen haben, ist das Kind entlastet und hat keinen Trennungsschmerz. Wenn die Eltern aber die Trennung nicht verkraften und zum Beispiel ein Elternteil dem anderen verwehrt, das Kind zu sehen, dann ist ein Gericht keine gute Instanz. Dann sollten die Eltern zu einer Mediation verpflichtet werden, damit man einen Weg findet, dass das Kind beide Elternteile erleben kann, ohne dass es die Probleme der beiden miterlebt.
C & W: Was ist eigentlich Kindeswohl?
Winterhoff: Damit wird oft an Gerichten argumentiert, aber ich bezweifle, dass dabei an die Kinder gedacht wird. Meistens geht es eher darum, die Eltern ruhigzustellen. Kindeswohl muss man entwicklungspsychologisch verstehen: Was brauchen Kinder in welchem Alter? Das ist ein sehr gut erforschtes Gebiet, aber das Wissen wird ignoriert. Ein Dreijähriger, den man jedes Wochenende aus seiner gewohnten Umgebung herausreißt, ist völlig überfordert.
C & W: Das klingt so, als sollte der Vater verschwinden und von seinen Kindern nichts mehr wissen wollen.
Winterhoff: Nein, so auch wiederum nicht. Aber ich habe schon Situationen erlebt, da hätte es den Kindern bessergetan, keinen Kontakt zum Vater zu haben.
C & W: Sagen Sie das den Eltern offen? Winterhoff: Ja. Ich versuche, mit beiden Elternteilen zu sprechen. Es ist aber selten, dass beide kommen. Meist habe ich mit alleinerziehenden Müttern zu tun.
C & W: Halten Sie es nicht als Mann für ungerecht, dass die Kinder immer noch deutlich häufiger bei der Mutter leben?
Winterhoff: Nein. Es kommt darauf an, wer vorher die meiste Zeit mit dem Kind verbracht hat. Wenn das die Mutter ist, sollte das auch so bleiben. Kinder brauchen nun einmal Zeit und Zuwendung.
C & W: Sie schreiben Bestseller und halten Vorträge. Geändert haben Sie offenbar nicht viel…
Winterhoff: Ich glaube schon, dass ich vielen Eltern geholfen habe, aber gesellschaftlich läuft der Umgang mit Kindern in eine falsche Richtung. Das Elternhaus ist nur eine Komponente, in Kindergärten und Schulen grassiert der Beibringwahn. Kinder sollen sich mit drei alleine anziehen können und mit fünf Chinesisch sprechen. Wichtig wäre aber, dass Erzieher und Lehrer die Kinder begleiten, dass sie mit ihnen in Beziehung treten.
C & W: So spricht ein einsamer Mahner in der Wüste. Haben Sie Verbündete?
Winterhoff: Ein einsamer Mahner bin ich nicht, viele denken wie ich, aber sprechen es nicht aus. Meine Verbündeten müssten eigentlich die Lehrer sein. Die bekommen zu spüren, was es heißt, wenn Grundschulkinder die emotionale Reife von Dreijährigen haben. Weil Bildungspolitik so ideologisch betrieben wird, werden auch in der Schule Kinder als Partner behandelt. Grundschüler sollen sich ihr Arbeitspensum selbst einteilen, es werden Verhaltenskontrakte abgeschlossen, als habe man es mit Erwachsenen zu tun. Für Kinder, denen auch zu Hause jede Orientierung fehlt, ist das fatal.
Die Lehrer machen keinen Aufstand. Stattdessen wird Sprachkosmetik betrieben. Verhaltensauffällige Kinder heißen jetzt „verhaltensoriginell“. Dann werden aufwendige Statistiken geführt, ob die Kinder einen Scheidungs- oder Migrationshintergrund haben. Vor dem Grundproblem, dass die Kindheit abgeschafft wird, verschließen alle die Augen, über Parteigrenzen hinweg. Kinder, die wir Erwachsenen nicht begleiten, verkümmern emotional. Sie haben kein Unrechtsbewusstsein, keine Empathie, keinen gesunden Ehrgeiz. Sie werden unselbstständige, nicht beziehungsfähige Erwachsene.
C & W: …die wiederum unselbstständige, beziehungsunfähige Kinder heranziehen?
Winterhoff: Diesen Teufelskreis kann man durchbrechen. Die vergangenen 20 Jahre waren sehr gravierend für unsere Psyche. Wir sind permanent erreichbar, trennen nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit, dazu kommen ständige Krisennachrichten. Für unsere Psyche heißt das, sie schaltet auf Dauer-Katastrophenmodus. Wir ruhen nicht mehr in uns selbst. Wenn man diesen Mechanismus kennt, kann man den Schalter umlegen.
C & W: Wie?
Winterhoff: Ein sehr langer Waldspaziergang, fünf Stunden etwa, kann sehr viel bringen. Wenn man einfach vor sich hin geht, nichts besichtigt, nicht hetzt, dann passiert etwas Grandioses: Man ruht wieder in sich, gewinnt Gelassenheit und Distanz, auch zu Beziehungsproblemen. Man macht dann nicht mehr die Umstände verantwortlich, sondern kann selbst gegensteuern. Wenn ich aber permanent im Katastrophenmodus bin, verliere ich jede Lebensqualität. Dieser erste lange Spaziergang fordert Überwindung, doch danach sieht man die Welt anders, gewinnt seine Intuition zurück. Das betrifft auch den Umgang mit Kindern. Noch besser ist es, fünf Tage ins Kloster zu gehen. Danach ist man für ein Dreivierteljahr aus dem Katastrophenmodus raus.
C & W: Sie raten zu Wald und Kloster. Die katholische Kirche hält die Unauflöslichkeit der Ehe hoch, um verlässliche Bindungen zu schaffen. Hilft es Kindern, wenn die Eltern zusammenbleiben, obwohl die Ehe am Ende ist?
Winterhoff: Nein, ganz sicher nicht. Eine spannungsreiche Ehe ist für Kinder genauso belastend wie eine spannungsreiche Trennung. Allerdings habe ich den Eindruck, dass Paare heute sehr früh aufgeben. Manchen habe ich geraten, die Krise durchzustehen, aber die Erwartungen an Ehe sind andere geworden. Die Partnerschaft soll die vollkommene Erfüllung bringen, und wenn die nicht mehr gegeben ist, kriselt es. Natürlich ist für das Kind eine liebevolle Beziehung der Eltern zueinander das Beste. Das heißt aber nicht, dass jede Scheidung ein Trauma bedeutet. Wenn es den Eltern gelingt, trotz Trennung an die Bedürfnisse der Kinder zu denken, ist das auch gut. Unauflöslichkeit ist keine Lösung.
Das Gespräch führte Christiane Florin.Von Michael Winterhoff erschien zuletzt „Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition“ (Gütersloher Verlagshaus).
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